Samstag, 1. August 2009

Hunger-Dossier

Texte aus Correos 154. August 2008

Das Verhungern organisieren

Es mangelt nicht an Nahrung an sich, sondern an erschwinglichen Lebensmitteln. Der aktuelle Zyklus intensivierter Hungersnot belegt dies eindrücklich. Wenn die dafür Verantwortlichen von Hilfe reden, meinen sie eine Ausweitung des strukturellen Massenmordes. Im Folgenden einige Elemente ihrer Propaganda.

Dieter Drüssel

In Dutzenden von Ländern ist es zu Hungerrevolten gekommen. Die fortschreitende Zerstörung der bäuerischen Landwirtschaft durch das Regime der Agromultis führt zu Bedingungen, von denen wir uns in den Metropolen kaum eine Vorstellung machen. Selbst die Weltbank, Mitpromotorin dieses Massenmordes, spricht von weiteren 100 Millionen Menschen, die zu den bisher 850 Millionen Hungernden dazu kommen. Die Gewinnmitteilung einer Syngenta, die FAO-Sonderkonferenz zur Hungersnot, die Doha-Runde der WTO in Genf, die intensivierten Offensiven gegen BäuerInnen und für die Gentechmultis in El Salvador oder Brasilien – das alles lässt wenig Zweifel daran, dass für die Mächtigen das intensivierte Massensterben nur Ansporn zu seiner nochmaligen Optimierung ist. In der Genfer WTO-Brutalität, im siegesbewussten Auftreten des CEO von Syngenta bei der aktuellen Präsentation des Halbjahresgewinns von $1.5 Milliarden drückt sich unverkennbar die Bereitschaft zur Vernichtung aus. Der Basler Konzern, einer der drei grössten Saatgut- und Pestizidherstellern weltweit, erwartet für 2008 eine Gewinnsteigerung von 35%. Der Gewinn fliesst Syngenta von abhängig gemachten BäuerInnen zu, die an den hohen Kosten für Saatgut und Pestizide zerbrechen wie die 150'000 indischen BäuerInnen, die wegen ihrer Verschuldung Selbstmord begangen haben. Das und die intensivierte Hungersnot verheissen Syngenta-CEO Mike Mack neue Erkenntnishorizonte: „Steigende Rohstoffpreise und deren Auswirkungen auf die Nahrungsmittelpreise haben das Bewusstsein für die zentrale Rolle der Landwirtschaft verstärkt“.

Leuthard und die glücklichen BäuerInnen
Wirtschaftsministerin Doris Leuthard wusste „die grösstenteils haltlosen Argumente zu entkräften“, mit denen SP, Grüne und die „Bauernfraktion“ der SVP im Nationalrat die „Wohltaten“ der globalen Agrarliberalisierung kritisierten: „Für indische Bauern sei die Entwicklung geradezu eine Wohltat, denn sie erhielten endlich bessere Preise für ihre Produkte“(NZZ). Das gilt es nur richtig zu sehen, belehrt ein anderer Artikel des Blattes: „Auf den ersten Blick erscheint der kräftige Anstieg der Getreidepreise tatsächlich dramatisch. [Ihre] teilweise Verdoppelung […] bringt die Budgets vor allem der Armen in den Entwicklungsländern unter Druck“. Doch „aus mehr Distanz betrachtet, handelt es sich beim Preisanstieg eher um den Bruch eines Trends, der in den letzten drei Jahrzehnten tendenziell zu einem Rückgang der realen Lebensmittelpreise geführt hat“. Der letzte Satz relativiert das Massaker zu einer Pendelbewegung und transportiert eine Standardlüge, denn im globalen Süden wurden Nahrungsmittel für die armen Mehrheiten real unzugänglicher. Die weitgehende Zerstörung der Subsistenzwirtschaft beraubt sie traditioneller Ernährungsmöglichkeiten, so dass sie laufend mehr von kaum realisierbaren Geldeinkommen abhängig sind.

Der NZZ-Propagandist „weiss“, „dass der Preisanstieg den Bauern prinzipiell starke Anreize vermittelt, das Nahrungsmittelangebot auszuweiten – was sich mittelfristig wieder mässigend auf die globalen Preise auswirken wird“. Die Nahrungsmittelverteuerung nütze den BäuerInnen, falls der „beträchtliche Spielraum […] etwa bei der Produktivität“ ausgenutzt wird. Gentechnologie, intensivierter Chemikalieneinsatz oder die Urwaldrodung („Ausweitung von Anbauflächen“) sind Elemente einer „neuen ‚grünen Revolution’ […] Damit die Elastizität des Angebots spielen kann, ist es allerdings nötig, dass die Preissignale des Marktes frei über die Grenzen fliessen können“. Es gelte, „den Agrarhandel [zu] befreien“, von „aktivistischen Politikern“ und, nicht ausgesprochen, von den BäuerInnen.

Die Realität scheitert an ihrer Voraussage
Wie sich die Realität zu dieser Propaganda verhält, sehen wir am Beispiel der mexikanischen BäuerInnen. Seit Beginn des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA 1994 wurden zwei Millionen von ihnen von ihrem Land vertrieben, im Kontrast zum NAFTA-Versprechen einer boomenden Bauernsame. Luis Téllez, damals mexikanischer Chefunterhändler und heute Kommunikationsminister, kommunizierte dazu durchaus typisch: „NAFTA ist nicht gescheitert, aber die Realität passte sich nicht an die Voraussagen an“.

Nicht vorhersagetauglich sind etwa auch die LandwirtInnen in Thailand: „Haben sie letztes Jahr 10'000 Baht ($308) für jede an die Mühlen gelieferte Tonne Reis erhalten, sind es dieses Jahr 9600 Baht (($296), auch wenn sich der Reispreis für die KonsumentInnen verdreifacht hat“. In Honduras werfen Campesinos und Campesinas das Handtuch angesichts der steigenden Kosten für Dünger und Saatgut. Dafür „importiert die einstige Brotkammer Zentralamerikas heute 83% ihres konsumierten Reises – eine vor bald 20 Jahren ausgelöste Abhängigkeit, als Honduras die Freihandelspolitik der Weltbank und anderer Geber übernahm“ und die bisherige 90-prozentige Nahrungsautarkie beendete. Und Leuthards glückliche Bauern? „Es gibt heute in Honduras 1300 Reisbauern im Gegensatz zu den mehr als 20'000 von 1989“, teilt eine Businessagentur mit.

Follow the money
„Die Preise für Weizen und Soja haben sich zwischen Frühjahr 2007 und Mitte Februar verdoppelt. Mais ist seit letztem Herbst um 66%, Reis in den vergangenen zehn Monaten um etwa 75% teurer geworden“, rapportierte die NZZ. Der „Economist“ beleuchtete die eindrückliche Teuerung letztes Jahr, um dann zu schreiben: „Doch dieses Jahr hat sich die Veränderung beschleunigt. Seit Januar sind die Reispreise um 141% gestiegen und der Preis für eine Weizensorte schoss an einem Tag um 25% in die Höhe“. Der britische „Independent“ machte folgende Gewinnangaben: Das Saatgutmonster Monsanto steigerte seinen Gewinn in der Periode Dezember 07 bis Februar 08 im Vergleich zur Vorjahrperiode um 42% auf $1.2 Milliarden, der Agrarhändler Cargill erzielte in der gleichen Periode einen Profit von $1 Milliarde (plus 86%), Cargill-Konkurrentin ADM machte im ersten Trimester dieses Jahres $517 Millionen (plus 42%) und der Düngerhersteller Mosaic verzwölffachte seinen Profit in der Zeitspanne von Dezember 07 bis Februar 08 auf über eine halbe Milliarde Dollar.

Am 4. Juli veröffentlichte der „Guardian“ einen Artikel von Aditya Chakrabortty über eine Studie des bekannten Weltbank-Ökonomen Don Mitchell, wonach Agrotreibstoffe für 75 Prozent des Essensverteuerung um insgesamt 140 Prozent seit 2002 verantwortlich seien. Der grundsätzliche Einfluss der Agrotreibstoffe auf die Teuerung ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, nur sein Ausmass ist umstritten. Jedenfalls liegt er weit über den von George Bush kolportierten 3 Prozent.

Das Geheimnis der Nachfrage
Das Geld fand auf seiner Flucht vor den BäuerInnen und KonsumentInnen auch den sicheren Hafen der Spekulation. Diese wird auch von der Nachfrage nach Agrotreibstoffen geölt. „Die Preise für Mais sind allein in diesem Jahr um etwa 50% angestiegen. Der Boom hat sich bisher mit dem erheblich höheren Bedarf der Fleisch- und der Ethanolproduzenten (Biotreibstoff) erklärt“. Was erst ein Nichtthema war, dass nämlich die Preisexplosion bei den Nahrungsmitteln mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA zu tun hat, wird mittlerweile beiläufig konzediert: „Seit der Handel mit verbrieften Wertpapieren illiquid geworden ist, haben sich die Anleger und Trader förmlich auf die Rohstoffmärkte gestürzt. In den Preisbewegungen der sozial sensiblen landwirtschaftlichen Güter spiegeln sich nun vermehrt auch Marktmanipulationen und spekulative Erwartung“. Anschaulicher tönt das so: „Mittlerweile sieht es für Fachleute so aus, als hätten Finanzinvestoren kurzerhand gleich den ganzen Markt gekapert. Sie kaufen wie wild Futures und treiben die Preise kurzfristig weiter in die Höhe. So verdoppelte sich etwa der Preis für Reis seit vergangenem August - auch für die 500.000 Tonnen, die die Philippinen in ihrer Not Anfang Mai kaufen wollen. Greg Wagner arbeitet seit über zwei Jahrzehnten im Getreidehandel. Sein Büro liegt nur einen Block von der Terminbörse Chicago entfernt. Was dort derzeit etwa beim Weizen passiert, hat der Analyst der Firma AgResource noch nicht gesehen. ‚Normalerweise haben wir hier eine überschaubare Gruppe von Verkäufern und Käufern, also von Farmern und Silobetreibern’, sagt er. Mit dem Zustrom großer Indexfonds hat sich das geändert. Die Finanzmanager raffen, was sie an Terminkontrakten kriegen können. Folge: ‚Die Preise klettern immer höher und höher’, sagt Wagner. Inzwischen, so hat er errechnet, halten die Finanzinvestoren die Rechte an zwei kompletten Jahresproduktionen der in Chicago gehandelten Weizensorte Soft Red Winter Wheat“. Und im weiter oben erwähnten Indpendent-Artikel lesen wir: „Die Investitionen der Indexfonds in Getreide und Fleisch haben sich letztes Jahr auf über $47 Milliarden beinahe verfünffacht, schlussfolgert das Chicagoer Forschungsunternehmen AgResource“.

Silvia Ribeiro von der in Ottawa domizilierten, auf Saatgut spezialisierten ETC Group hält fest, dass Monsanto, Bayer, Syngenta, Dupont, BASF und Dow den globalen Markt mit gentechnisch verändertem Saatgut total kontrollieren. „Zusammen mit Cargill, ADM, ConAgra, Bunge und Dreyfus, welche 80 Prozent des globalen Getreidehandels kontrollieren, haben sie mit der mangelnden Nahrung, der Promotion und Subventionierung von Agrotreibstoffen und dem Ölpreisanstieg (Agrogifte sind Petrochemikalien) absolut schamlose Gewinne gemacht. Zu dieser Situation kommt hinzu, dass die grossen spekulativen Investitionsfonds mit der Immobilienfinanzkrise ihre Gelder in die Kontrolle der Agrarprodukte im internationalen Markt, die Commodities, steckten. Man schätzt, dass diese Fonds aktuell 60 Prozent des Weizen und grosse Teile anderer Grundnahrungsmittel kontrollieren“. Ellen Brown, eine US-Zivilanwältin, erklärt uns die Logik:„“Nach der geläufigen Wirtschaftstheorie gehen die Preise hoch, wenn die „Nachfrage“ das „Angebot“ übersteigt. Doch in diesem Fall meint „Nachfrage“ nicht die Anzahl Hände, die nach der Nahrung langen. Der Begriff meint die Gelder, die um das verfügbare Angebot wetteifern. Die globale Nahrungskrise resultierte aus einem Zuwachs nicht an Mäulern, die ernährt werden wollen, sondern des Preises. Es ist das Angebot an Geld, das gestiegen ist, und es ist das Investitionsgeld auf der Suche nach schnellem Profit, das die Nahrungsmittelpreise hochtreibt“. Ähnliches gilt übrigens auch für die explosive Ölverteuerung, welche über gestiegene Produktionskosten wegfrisst, was immer aus den Nahrungsprofiten allenfalls bis zu den BäuerInnen heruntersickert.

Die Hetze vom asiatischen Fressmaul
Die Spekulation mit Essen, so unerträglich sie ist, gedeiht nur vor dem Hintergrund der realen Zerstörung der bäuerischen Wirtschaft. Diese wird verschleiert und gleichzeitig legitimiert, etwa mit der unsäglichen These von den asiatischen Vielfrassen, die „schuld“ seien an der verschärften Hungersnot. Da durfte sich auch Angela Merkel den Frust von der eurodeutschen Seele reden: „In Indien etwa nähmen inzwischen rund 300 Millionen Menschen eine zweite Mahlzeit am Tag, sagte Merkel. ‚Wenn die plötzlich doppelt soviel Nahrungsmittel verbrauchen als sie das früher gemacht haben und dann auch noch 100 Millionen Chinesen beginnen Milch zu trinken, dann verzerren sich natürlich unsere gesamten Milchquoten und vieles andere’, sagte die CDU-Chefin mit Blick auf den europäischen Agrarmarkt“. Nicht nur Merkel ortete den Unruheherd im Fernen Osten: „Die Hauptursache für die steigenden Preise liegt natürlich im Nachfragewachstum von China und Indien. Jährlich stossen neu Hunderte von Millionen zur Mittelklasse hinzu [sic!] und das bedeutet, dass sie mehr und besser essen wollen“.

Nur schon oberflächlich betrachtet, ist die Fressmaulthese untauglich: „Laut der FAO gibt es mit der Rekordgetreideernte von 2007 genügend Nahrung in der Welt, um alle zu ernähren – mindestens das Anderthalbfache der aktuellen Nachfrage. Tatsächlich ist in den letzten 20 Jahren die Nahrungsmittelproduktion um jährlich mehr als 2 Prozent gestiegen, während die Bevölkerungszunahme auf 1.14 Prozent pro Jahr gefallen ist. Die FAO geht in ihrem letzten „Global cereal and demand brief“ vom 2. April 2008 für die Periode 2007/08 von einer globalen Zunahme der Nachfrage nach Getreide von 1 Prozent aus, während die Produktionszunahme 2007 gegenüber dem Vorjahresrekord 4.7 Prozent betrage.

Weniger essen, mehr „Nachfrage“
Vandana Shiva blickt auf die Dynamik hinter den Zahlen. In der Grain-Monatszeitschrift Seedling schreibt sie: „Erstens wurde die Mehrheit der InderInnen ärmer, während die indische Wirtschaft gewachsen ist, weil sie ihr Land und ihren Lebensunterhalt als Resultat der Globalisierung verloren haben. Die meisten InderInnen essen heute tatsächlich weniger als vor einem Jahrzehnt, vor der Ära der Globalisierung und Handelsliberalisierung. Die Nahrungsverfügbarkeit pro Kopf sank von 177 k/Jahr 1991 auf 152 k/Jahr heute. Eine Million indischer Kinder sterben jedes Jahr mangels ausreichender Ernährung. Zweitens ist die Ernährunglage selbst für die Mittelschichten schlechter als vor der Globalisierung“ – mehr Junkfood. „Während die InderInnen weniger essen, kauft Indien viel mehr Soja und Weizen auf dem internationalen Markt. Diese Importe wurden von den US-Agrounternehmungen unter Druck der WTO-Regeln und der US-Regierung aufgezwungen. Diese Importe waren vorher nicht nötig, da Indien bei Weizen und Speiseölen autark war. […] 1998 importierte Indien Soja, obwohl wir vergleichbare Speiseöle hatten. Da das US-Produkt mit beinahe $200/Tonne subventioniert war, entsprachen diese Importe einer Dumpingpolitik. Millionen indischer BäuerInnen, die Kokosnuss, Senf, Leinsamen und Erdnüsse produzierten, verloren Absatzmärkte und Lebensunterhalt. 2005 importierte Indien im Rahmen eines Landwirtschaftsabkommens mit den USA Weizen, obwohl das Land 74 Mio. Tonnen produzierte und nicht mehr brauchte. Diese Importe sind darauf angelegt, die einheimische Produktion zu zerstören, um einen Markt für das US-Agrobusiness zu schaffen“.

Indien ist keine Ausnahme. Klassische „Kornkammern“ früherer Zeiten importieren heute von den Agromultis, was in ihnen während Jahrtausenden kultiviert wurde: Ägypten gehört zu den Weizenimport-„Weltmeistern“, Mexiko, die Wiege des Mais, kauft ihn heute von Cargill und Peru bezieht seine Kartoffeln, von denen die Inkas zehntausend Sorten zogen, von Holland. Malawi oder Zimbabwe waren bis zur Umsetzung der „Nahrungsmittelliberalisierung“ à la IWF und Weltbank agrarische Überschussländer, Ruanda war praktisch selbstversorgend bis zu der vom IWF angeordneten Überschwemmung des Landes mit Dumpingfood aus Europa und den USA 1990.

„Grüne Revolution“
„Vor 40 Jahren hatten die meisten Länder des globalen Südens einen jährlichen Überschuss im Handel mit Nahrungsmitteln von $7 Mrd.“, schrieben Holt-Giménez und Peabody im schon zitierten Artikel. „Nach der ersten UNO-„Entwicklungsdekade“ sank der Überschuss auf $1 Mrd. Heute, nach vier „Entwicklungsdekaden“ und der Expansion der globalen Nahrungsmultis, stieg das Nahrungsdefizit des Südens auf $11 Mrd./Jahr. Es wird sich laut Voraussage der FAO 2030 auf $30 Mrd. ausweiten [… ] Die erste grosse Entwicklung in Richtung des Agrofood-Komplexes bestand in der Verbreitung des industriellen Modell der Nahrungsproduktion durch die „Grüne Revolution“. In den 1960er Jahren begann diese, „technologische Pakete“ von Hybridsaatgut, Dünger und Pestiziden in Asien, Afrika und Lateinamerika zu vermarkten. Die Grüne Revolution, ein (danach mit öffentlichen Geldern finanziertes) Projekt der Ford- und Rockerfeller-Stiftungen, steigerte die Flächenerträge, indem sie Hybridsaaten für Reis, Weizen und Mais entwickelte, welche dicht aneinander gepflanzt werden konnten und Bewässerung und intensiven Düngereinsatz brauchten. Im Westen stieg die Prokopfproduktion von Nahrungsmitteln um 11%. Aber auch die Zahl der Hunger stieg um 11%. Denn die Technologien der Grünen Revolution liessen sich leichter von GrossgrundbesitzerInnen anwenden, die gute Böden übernahmen und viele KleinbäuerInnen vertrieben, welche in die jetzt im globalen Süden allgegenwärtigen Stadtslums emigrierten. Andere rodeten, ermutigt durch staatliche „Landreformen“, neues Ackerland im Urwald oder in gefährdeten Hanglagen. Bald folgten Entwicklungsprojekte, die KleinbäuerInnen billige Kredite offerierten, um die technologischen Pakete der Grünen Revolution zu erwerben. In fragilen Wald- und Hanglagen laugten diese Pakete die Böden schnell aus, was stets wachsende Düngerapplikationen nach sich zog. Die Erträge fielen und die enorme Diversität lokaler angepflanzter Varianten wurde bis um 90% reduziert“. Saatgutfirmen wie Pioneer und Cargill eigneten sich ein Drittel des im „Internationalen Zentrum für die Verbesserung von Mais und Weizen“ gesammelten Saatgutes privat an - mit jährlichen Extraprofiten für die Agromultis von $10.2 Mrd. Die AutorInnen illustrieren auch, wer bei diesem „Spiel“ verliert: „Von 1979-97 stiegen die Getreideproduktion [in Zentralamerika] um 45 Mio. Tonnen/Jahr und der Düngerverbrauch pro Hektare von 80 auf 120 k. Doch von 1980-96 fielen die Durchschnittserträge um die Hälfte. Wie stieg die Produktion
bei fallendem Ertrag? Durch die Ausdehnung der „Agrargrenze“. Während der Hochzeit der Grünen Revolution verlor Zentralamerika die Hälfte seiner Tropenwälder“.

Der Grünen Revolution folgten ab den 80er Jahren die Strukturanpassungsprogramme (SAP) der Internationalen Finanzinstitute als „Antwort“ auf die sogenannte Schuldenkrise der 80er Jahre. In den 60er- und 70er Jahren hatten sich die Länder des Südens zwecks Finanzierung der „technologischen Pakete“ der Grünen Revolution verschuldet. Die Kredite würden spielend, so die Bauernfängerei, aus dem Export der dank Grüner Revolution produzierten export crops bezahlt werden können. Doch in grossen Teilen der Welt konkurrierten sich nun immer mehr Länder des Südens mit den gleichen Produkten auf dem Weltmarkt. Ergebnis: die Preise sanken, die Länder verschuldeten sich weiter. Die „Ölschocks“ führten Ende in den 70er Jahre zu steigenden Produktionskosten und einer Rezession, die Banken wollten ihre Kredite jetzt zurück, die grosse Schuldenkrise war da. Mit den SAP von IWF und Weltbank wurde die nochmals verschärfte Zurichtung der globalen Agrarwirtschaft auf das Regime der Multis durchgesetzt: Abschaffung der staatlichen Nahrungsreserven im Trikont (s.u.), Privatisierungen und Senkung der Importzölle und der Subventionen an die BäuerInnen im Süden, gleichzeitig mit Protektionismus und Exportsubventionen für die Agrofoodmultis im Norden. Das öffnete den Agrarmultis neue Märkte im Süden, wo sie ihre subventionierte Waren zu Dumpingpreisen gegen die lokale Produktion durchsetzten.

WTO
„Als ob die Strukturanpassungsprogramme nicht schlecht genug gewesen wären, wurden fast alle Staaten des Südens 1995 Mitglieder der WTO. Um Mitglied zu werden, mussten die Länder das WTO-Abkommen über Landwirtschaft (AoA) vollumfänglich unterschreiben. Das AoA wurde von einem Ex-Angestellten von Cargill verfasst und stipuliert, dass Agrarimporte nur durch Zölle reguliert werden dürfen. Es verlangt [gleichzeitig], dass alle Mitgliedsstaaten ihre Agrarimportzölle senken müssen. Mit dem AoA wurden alle Mitgliedsländer im Süden gezwungen, ihre Agrarzölle bis 2005 um 24% zu senken. AoA erlaubt andererseits den Ländern, ihre Subventionen weiterzuführen, solange sie nicht den Handel direkt verzerren. Angesichts der Strukturanpassungsprogramme galt dies faktisch nur für die USA und die EU. Dies hat es Unternehmen wie Monsanto und Cargill möglich gemacht, weiterhin massive Subventionen von den USA und der EU zu erhalten. 2002 verabschiedete die US-Regierung das Farm-Gesetz, welches erlaubt, die amerikanischen Farmer, vor allem grosse Multis, während 10 Jahren mit $180 Mrd. zu subventionieren. Das Farm-Gesetz wurde als WTO-konform taxiert“. Letzten Mai bekräftigte der US-Kongress diese Politik, einschliesslich Riesensubventionen für Ethanolmais.
Die Autorin vermittelt uns, wie Abhängigkeiten erzeugt werden: „GrossgrundbesitzerInnen und Multis haben Land aufgekauft, dass KleinbäuerInnen im Süden aufgeben mussten. So haben Parmalat und Nestlé in Südafrika und Uruguay lokale Milchunternehmen aufgekauft. Zu Beginn subventionierten sie diese neuen Filialen. Dies ermöglichte es ihnen, einen Preiskrieg zu starten, der viele KleinproduzentInnen aus dem Geschäft verdrängte, so dass die Unternehmen in Südafrika und Uruguay eine faktische Monopolstellung erringen konnten. Einerseits zahlten sie den KleinbäuerInnen, die es schafften, im Geschäft zu bleiben, einen Hungerlohn. Und andererseits sprachen sich Nestlé und Parmalat ab, um den KonsumentInnen für die verarbeiteten Produkte exorbitante Preise zu berechnen. Die beiden Unternehmen benutzten Uruguay und Südafrika auch als Basis, um in den [südamerikanischen Wirtschaftsraum] Mercosur und die [Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas] SADC zu exportieren. So erzielten sie die komplette Kontrolle über dies Märkte“.

Nahrungsreserven kontrollieren
Wir haben also gesehen: physisch gibt es mehr als genug Lebensmittel für alle. Ihre „Knappheit“ ist Ausdruck von Profitstrategien. Modernisierungsoffensiven wie die Grüne Revolution behaupteten, mit einer „effizienteren“ Agrarproduktion das Hungerproblem zu lösen – das schon damals eines von Raub, nicht physischer Knappheit war. Sie zwangen mehr Menschen zu hungern und konzentrierten eine bis anhin unvorstellbare Macht in den Händen weniger Agrarmultis und ihrer imperialistischen Basisländer. Die aktuellen Hungersnöte sind ein Ergebnis dieser Politik und werden für deren weitere Verschärfung eingesetzt.

Als Beleg für die „objektive“ Knappheit gilt monoton der Hinweis auf die schwindenden globalen Getreidereserven. Schon im Februar 2007 waren sie auf ein Rekordtief gefallen, das theoretisch gerade noch für Nahrung während 56.7 Tagen ausreichte. „Wenig Reserven, da wenig Angebot - wenig Reserven, viel Hunger - also mehr produzieren und freihandeln!“ So die Bauernfängerei. Doch wie kam es zu den ungenügenden Reserven? Zu den Strukturanpassungsprogrammen in den 80er und 90er Jahren gehörte wie das Amen in der Kirche die Zerstörung der strategischen Nahrungsreserven. Quer durch die drei Kontinente des Südens wurden die nationalen, staatlichen Systeme der Nahrungsvorratslagerung abgeschafft, die, wenn auch oft nur dem Anspruch nach, für Krisenzeiten und für den Verkauf von subventionierten Grundnahrungsmitteln an die Armutsbevölkerung dienten. El Salvador etwa hatte bis 1991 Silos mit einer Lagerkapazität von Grundnahrungsmittel für sieben Jahre für die gesamte Bevölkerung. Heute explodieren die Essenspreise und die Regierung importiert Fijoles aus dem Ausland, um die Bevölkerung bei Stange zu halten. Die aktuelle Spekulation mit den Verhungernden setzt die Nichtexistenz von Vorräten oder dann ihre Kontrolle durch von Hungernden nicht beeinflussbare kapitalistischen Zentralmächte voraus (erinnern wir uns an die im Spiegel beschriebenen Finanzinvestoren, welche die Rechte an zwei Jahresproduktionen einer Weizensorte halten).

Der Macht dienen
Folgt man der Weisheit der Gehirnwäsche, verantworten weder die „Strukturanpassungen“, also die Zurichtung auf ein globales Nahrungsoligopol, noch die Spekulation die schwindenden Nahrungsreserven, sondern, wie könnte es anders sein, neben den gefrässigen AsiatInnen jene Regierungen im Süden, die in der Zeit der Krise den Export von Grundnahrungsmitteln zugunsten der Versorgung der Bevölkerung einschränken, also „horten“. Horten ist, wenn die Leute essen, statt die Aktien. Das aber ergrimmt etwa den UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon. Er nämlich „wandte sich entschieden gegen Exportbeschränkungen und Preiskontrollen, zu denen sich während der vergangenen Monate eine Reihe von Entwicklungs- und Schwellenländern hatten hinreissen lassen. Der UNO-Generalsekretär gab zu bedenken, dass solche Massnahmen zu gravierenden Marktverzerrungen führten. Mit Nachdruck forderte er einen raschen Abschluss der Dauha-Welthandelsrunde der WTO“. Ban Ki Moon steht nicht allein: „Dass aber gerade der Handel mit Nahrungsmitteln bei der Armutsbekämpfung hilft, unterstrich Volkswirtschaftsministerin Doris Leuthard. Nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit Ägypten habe ein Importkontingent von 24’000 Tonnen Kartoffeln in der Schweiz etlichen Wirbel verursacht, stellte sie fest. Für die armen Bauern Ägyptens habe sich der Verkauf von Kartoffeln gelohnt, sagte Leuthard, denn sie konnten aus dem Erlös mehr Nahrungsmitteln erwerben. Hätten sie ihre Kartoffeln selber gegessen, wäre unter dem Strich weniger übrig geblieben“.
Gerade waren in Ägypten Hungerrevolten blutig unterdrückt worden. Die verbliebenen FellachInnen im Land sind seit Jahren völlig ausgepowert. Wir haben gesehen, wie BäuerInnen von den Exporterlösen „profitieren“. Weltweit nimmt das Hungersterben zu und in der NZZ wird weiter das Hohelied auf die unselige Lüge von den „komparativen Vorteilen“ gesungen. Die Journalistin empört sich im gleichen Artikel über den Begriff „Nahrungssouveränität“, da er, zitatwürdig, „nicht etwa das Recht von Individuen auf selbstbestimmte Nahrung“ meint, also von aufwärts mobilen Kaufkrafteinheiten, sondern von Bevölkerungen! Von der Schreiberin oder ihrer Bundesrätin mag nichts anderes zu erwarten sein. Aber das soll uns nicht dazu verleiten, zu verdrängen, welches Mordkommando sie formulieren. Natürlich, die Betreffenden werden sich dessen kaum bewusst sein – schliesslich ist der Macht gedient, indem man es formuliert, nicht, indem man es reflektiert.

Ein Letztes noch: Als Generaldirektor Pascal Lamy während der Genfer WTO-Runde einen „Durchbruch“ ankündigte, war der mediale Einheitsoptimismus ungebrochen. Es war eine der heute üblichen Operationen des Wahrnehmungsmanagements, gegen jede Form von Dissens. Dabei hätte ein Blick -sagen wir auf Argentinien- gereicht, wo die Regierung unüberhörbare Vorbehalte am Kurs des brasilianischen Präsident Lula da Silva, angebracht hatte, diesem WTO- und Monokultur-versessenen Polit-As von Monsanto,. Doch solches sollte die verordnete Euphorie – Druckmittel im Verhandlungspoker - nicht stören, existierte also „nicht“. Dass es gelungen ist, die globalisierungskritische Bewegung zu paralysieren, wird sofort für die mediale Gleichschaltung benutzt. Und die grosse „Enttäuschung“ nach dem Genfer Scheitern transportiert nichts anderes als die wütende Ankündigung, das Ausbeutungsrecht fortan noch verstärkter über bilaterale und regionale Freihandels- und Investitionsschutzabkommen durchzusetzen. Für die offizielle Schweiz steht dabei die Durchsetzung einer gentechnologisch „verbesserten“, „produktiven“ Landwirtschaft mit im Zentrum. Denn immer noch wird fast die Hälfte der globalen Nahrungsmittel von BäuerInnen hergestellt, nicht von Agrarmultis, ein Missstand, den Doris Leuthard und Syngenta auf keinen Fall hinzunehmen bereit sind. Um so weniger, als immer noch gilt, was zu Beginn der US-Politik des Hungers als Waffe in den 50er-Jahren der führende US-Politiker Hubert Humphrey feierte: “Ich habe gehört… dass Leute in der Ernährung von uns abhängig werden können. Einige meinen, das sei keine gute Nachricht. Für mich ist das eine gute Nachricht… Wenn wir nach einem Weg suchen, wie man andere dazu bringen kann, sich an uns anzulehnen und in ihrer Zusammenarbeit mit uns in Abhängigkeit von uns zu geraten, dann scheint mir, dass Abhängigkeit in der Ernährung eine grossartige Sache wäre”.

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Die Rolle der USA in den Hungerrevolten von Haiti

Vor dreissig Jahren produzierte Haiti allen Reis, den es brauchte. Was ist geschehen?

Bill Quigley*

Hermite Joseph, eine Mutter, die auf den Märkten von Port-au-Prince arbeitet, teilte dem Journalisten Nick Whalen mit, dass ihre beiden Kinder „wie Zahnstäbchen“ seien, „weil sie nicht genügend zu essen bekommen. Früher konnte man für $1.25 Gemüse, etwas Reis, Kohle für 10 Cents und ein wenig Speiseöl kaufen. Jetzt kostet allein etwas Reis 65 Cents, und schlechter Reis dazu! Öl kostet 25 Cents. Kohle auch. Mit 1.25 kann man nicht einmal ein Reisgericht für ein Kind zubereiten“. Das Food-Programm der Kirche Ste. Claire in der Tiplas Kazo-Gegend von Port-au-Prince serviert 1000 Gratisessen pro Tag, fast alle an hungrige Kinder – fünf Mal in der Woche in Zusammenarbeit mit der What If-Stiftung. Man weiss von Kindern aus Cité Soleil, welche die fünf Meilen für ein Essen in der Kirche gelaufen sind. Wegen den Preissteigerungen bei den Lebensmitteln sind die Portionen jetzt kleiner. Aber der Hunger nimmt zu und mehr und mehr Kinder kommen für ein Gratisessen.

Die New York Times belehrte Haiti am 18. April, dass “sich Haiti mit seiner Agrarindustrie, die in Trümmern liegt, besser ernähren muss“. Leider behandelte der Artikel mit keinem Wort eine der Hauptursache für den Mangel – die Tatsache, dass die USA und internationale Finanzkörperschaften die haitischen ReisbäuerInnen kaputt machten, um einen Absatzmarkt für den schwer subventionierten US-Reis zu schaffen. Das ist nicht der einzige Grund für Hunger in Haiti und in anderen armen Ländern, aber es ist ein wesentlicher Faktor.

Vor dreissig Jahren produzierte Haiti allen Reis, den es brauchte. Was ist geschehen? Nach der Vertreibung 1986 des haitischen Diktators Jean Claude „Baby Doc“ Duvalier lieh der IWF Haiti $24.6 Mio. verzweifelt gebrauchtes Geld (Baby Doc hatte beim Weggehen die Landesersparnisse mitgenommen). Aber um diesen Kredit zu kriegen, musste Haiti die Zollprotektion für seinen Reis und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse und einige Industrien reduzieren und seine Märkte der Konkurrenz von aussen öffnen. Die USA hatten mit Abstand die gewichtigste Stimme im IWF. Dr. Paul Farmer war damals in Haiti und sah, was passierte: „Binnen zwei Jahren wurde es für haitische BäuerInnen unmöglich mit dem zu konkurrieren, was sie Miami-Reis nannten. Der ganze lokale Reismarkt von Haiti fiel zusammen, als billiger, subventionierter US-Reis den Markt überflutete, teilweise in der Form von ‚Nahrungshilfe’. Es gab Gewalt, die ‚Reiskriege’, Menschenleben gingen verloren.“ [A.d.R.: Paul Farmer ist ein bekannter Arzt aus den USA, der unter den Diktaturen vor Aristide das einzige Gesundheitssystem für HIV- und AIDS-Betroffene aufbaute, zusammen mit den kubanischen GesundheitsarbeiterInnen, abseits jeder offiziellen Hilfe.] Zwischen 1987 und 1988 kam so viel Reis ins Land, dass viele aufhörten, das Land zu bebauen. Vater Gérard Jean-Juste, ein haitischer Priester, der früher die Kirche Ste. Claire leitete, stimmt zu: „In den 1980er Jahren strömte importierter Reis in unser Land, unter den Kosten, zu denen unsere BäuerInnen ihn produzieren konnten. Sie verloren ihren Unterhalt. Die Leute auf dem Land verloren ihre Jobs und kamen in die Städte.“. [A.d.R.: Gérard Jean-Juste wurde vor den letzten Wahlen für eine lange Zeit unter einer gefälschten Anklage inhaftiert, um zu verhindern, dass er für Aristides Lavalas-Partei für die Präsidentschaft kandidiere.]

Doch das reichte der internationalen Businessgemeinschaft noch nicht. 1994 wurde Jean-Bertrand Aristide von den USA, der Weltbank und dem IWF dazu gezwungen, die Märkte in Haiti noch weiter zu öffnen – als Bedingung für die US-Unterstützung für seine Rückkehr als gewählter Präsident nach Haiti. Das Land ist definitiv arm. Laut der UNO beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung 59 Jahre, während sie in den USA bei 78 liegt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als einem Dollar am Tag. Dennoch ist Haiti zu einem der wichtigsten Importeure von US-Reis geworden. Laut den Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums 2008 ist Haiti der drittgrösste Importeur von US-Reis – es geht um 240'000 Tonnen [pro Jahr]. Die Reissubventionen in den USA betrugen von 1995 bis 2006 $11 Milliarden. Ein Hersteller allein, Riceland Foods Inc von Stuttgart in Arkansas, erhielt in diesem Zeitraum über eine halbe Milliarde Dollars an Reissubventionen. Zusätzlich zu den Subventionen für Reishersteller in den USA gibt es auch die direkten Zollbarrieren zwischen 3 und 24 Prozent, berichtet Daniel Griswold vom [extrem wirtschaftsliberalen] Cato Institute. Genau die gleiche Art von Protektionen, nur viel höher, welche die USA und der IWF von Haiti in den 1980er und 1990er Jahren aufzulösen verlangt hatten.

Nicht nur haitische ReisbäuerInnen sind betroffen. Paul Farmer sah es auch bei den ZuckerpflanzerInnen: „Haiti, einst der grösste Zuckerexporteur der Welt, begann, Zucker zu importieren – aus der US-kontrollierten Zuckerproduktion in der Dominikanischen Republik und in Florida. Es war schrecklich zu sehen, wie die BäuerInnen ihre Arbeit verloren. All das hat zu den Hungerrevolten von diesem Monat geführt.“

In den USA spüren die Leute die weltweiten Probleme beim Tanken und im Lebensmittelgeschäft. Mittelschichtsangehörige können beim Reisen oder Fleischkonsum sparen. Die Zahl der Leute auf Essmarken ist in den USA so hoch wie noch nie. Aber in armen Ländern, wo schlechte Ernährung und Hunger schon vor den Preissteigerungen weit verbreitet waren, kann man bei nichts sparen ausser beim Essen. Merisma Jean-Claudel, eine junge Uniabsolventin in Port-au-Prince, sagte dem Journalisten Wadner Pierre: „… die Leute können nichts zum Essen kaufen. Die Benzinpreise steigen. Es ist sehr hart für uns hier. Die Lebenshaltungskosten sind unsere grösste Sorge, kein Frieden im Bauch heisst kein Frieden im Geist.“ Vater Jean-Juste berichtete: „Unser Land muss sofort Notkantinen zur Ernährung der Hungrigen öffnen, bis wir ihnen zu Jobs verhelfen können. Langfristig müssen wir in Bewässerung, Transport und andere Unterstützung für unser BäuerInnen und ArbeiterInnen investieren.“

* gekürzt aus Counterpunch, 21.4.08: „The U.S. Role in Haiti’s Food Riots”. Der Autor ist Menschenrechtsanwalt und Juradozent an der Loyola University von New Orleans, seit Jahren in der Solidaritätsarbeit mit Haiti engagiert und verteidigt in New Orleans arme Katrina-Opfer gegen ihre Massenvertreibung im Zuge der „Stadtaufwertung“ nach dem Wirbelsturm.

Kasten
„Selber schuld“
(dd) Es ist immer die gleiche Kotze: Als 2001 das neoliberale Regime in Argentinien im Volksaufstand stürzte, waren die imperialistischen Regierungen, ihre Forscher und Meinungsmacherinnen gleich zur Hand, um die eben noch als Musterschüler in den Himmel Gelobten als Stümper zu disqualifizieren, unfähig, auch nur einen der ihnen auf den Weg mitgegebenen guten Ratschläge zu beherzigen. Aus der Revolte gegen den neoliberalen Terror wurde so unter der Hand ein Protest gegen dessen ungenügende Durchsetzung. Das gehört zum Standardrepertoire: Schuld sind die Andern. Das klingt, im Kontext der haitischen Armutsrevolten gegen das Hungerdiktat, so: „Die Regierung […] hat es versäumt, dafür zu sorgen, dass die geringe inländische Produktion von Nahrungsmitteln erhöht wird, und ist jetzt auf Gedeih und Verderb von teueren Importen abhängig.“ (NZZ, 14.4.08) Tsss, tsss … Im gleichen Monat monierte ein Kollege des über haitische Fehlleistungen Nachsinnenden, nachdem er uns mit der Mitteilung erfreute, wie eigentlich der Reis in den letzten drei Jahrzehnten in den Philippinen billig geworden ist: „Zum anderen haben die [philippinischen] Regierungen des Landes die Landwirtschaft systematisch vernachlässigt“, die Unaufmerksamen! (NZZ, 28.4.08). Denn es gab nie ein Gebot zur „Weltmarktorientierung“ durch die Internationalen Finanzinstitute, nie eine US-Militärpräsenz im Land, nie eine Entwicklungshilfe und übrigens auch nie eine Schweiz, welche die bilaterale „Entschuldung“ der Philippinen von einer noch „bäumigeren“ Befolgung der Liberalisierungsweisheiten abhängig machte, ganz zum Wohl des Mündels. Wäre das nur widerlich und verlogen, könnte man vielleicht angeekelt sich Anderem zuwenden. Doch hinter diesen Sprüchen steht noch stets der interventionistische Imperativ zwecks „Problemlösung“, zu welcher die Einheimischen offensichtlich unfähig sind.
„Schuld sind immer die Andern“ – das gilt auch für die KumpanInnen der globalen Rauboffensive im Süden. Die „Andern“ pflegen dann der IWF etcetera zu sein, nur nicht die eigenen „Eliten“, die mit dem IWF während Jahrzehnten energisch am gleichen Strick gezogen haben. Auch hier natürlich das Kalkül, über populistische Schuldzuweisungen das eigentliche Geschehen zu verdecken, um es weiterziehen zu können.

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BäuerInnen enteignen, Böden zerstören, noch mehr helfen

Wie eine Agrarkonterreform in Lateinamerika (und anderswo) die BäuerInnen schachmatt setzen und der „Philanthropie der Multis“ zum Durchbruch versetzen soll.

Dieter Drüssel

Im bolivianischen Departement von Santa Cruz ist der Teufel los. Auf riesigem Grossgrundbesitz werden indigene Comunidades in faktischer Sklaverei gehalten. Als Abordnungen der Zentralregierung die Familien befreien wollten, wurden sie von bewaffneten Kräften der Grossgrundbesitzer vertrieben. Santa Cruz, das ist das Zentrum der Erdgasproduktion, der Sojamonokultur, der paramilitärischen Unión Juvenil Cruceñista mit ihrem Nazi-Ustascha-Ursprung. Santa Cruz, das ist das Zentrum des von den Washingtoner „Demokratie-Stiftungen“ finanzierten Separatismus der Reichen. Lega Nord im Quadrat, Modell für den Globus.

Das „Autonomie-Statut“ von Santa Cruz vertritt „eine Agrarpolitik, die gegen die Kleinparzelle, nicht den Grossgrundbesitz, kämpft. Die Departementsregierung wird über das Instituto Departamental de Tierras ‚die Umgruppierung und Neuverteilung’ der Ländereien organisieren, um das Erscheinen von unproduktiven Kleinparzellen zu verhindern. Man will sogar bestehende „unproduktive“ Landparzellen aufheben, indem sie in „produktive“ Haciendas konzentriert werden. Im Kern geht es den Autonomisten um den Erhalt von Latifundien und Mastländereien“ (Bolpress, 28.4.08: „Por qué no votar el domingo 4 de mayo“).

Enteignung per Miete
In El Salvador pushen die Regierungspartei ARENA und die Agrarkammer Camarco ein sogenanntes Landpachtgesetz. An die 280'000 „unproduktive“ Hektaren sollen zwangsverpachtet werden können. Denn so könne laut dem Vizefraktionschef von ARENA, Mario Marroquín, „die Nahrungssicherheit erreicht“ werden (El Diario de Hoy, 22.4.08). Kontext: Im Land fehlt es an der Nationalkost der frijoles, der roten Bohnen. Das Pachtgesetz, so Landwirtschaftsminister und Agraroligarch Mario Salaverría, soll nun Abhilfe schaffen. Denn „wir suchen auch in El Salvador nach Ländereien, treffen aber auf eine Beschränkung“. Gemeint ist die konstitutionelle Beschränkung von Grundbesitz auf 245 h, eine Massnahme, welche die USA in den 80er Jahren eingeführt haben, um der Guerilla die Basis auf dem Land abspenstig zu machen. Diese Zumutung haben die Grossgrundbesitzer natürlich mit „Aufteilung“ ihrer Ländereien auf Strohmänner etc. und mit direkter Korruption durchlöchert. Dennoch behindert diese Beschränkung ein totales Landmonopol, was sich im anhaltenden Lamento über die kommunistische Zerstörung „des Ackers“ niederschlägt. Seit 2005 weibelt Staatspräsident Tony Saca für das Landpachtgesetz, welche den nur schwer zu knackenden Verfassungsartikel de iure in Kraft belässt, faktisch aber kippt. „Unproduktive“ Parzellen werden formal nicht enteignet, sondern von Kapitalkräftigen für drei Jahre gepachtet. Der Pachtzins kann sich nach dem erwirtschafteten Gewinn richten, dessen Höhe von den zum Verpachten Gezwungenwn nicht kontrolliert werden kann. Wirden Investitionen ins Land gesteckt, haben die „VerpächterInnen“ diese zu vergüten. Können sie das nicht, gilt das Land unbeschränkt als weiter verpachtet., also de facto enteignet.

Wie aber kommt es zu „unproduktiven“ Parzellen? Easy: Sperre den BäuerInnen die Kredite und führe Dumpingimporte aus den USA ein! Der Marktpreis für den subventionierte Importmais aus den USA liegt seit vielen Jahren unter den Kosten für die lokale Maisproduktion. Resultat: Die Leute suchen andere Einnahmequellen, möglichst nicht in der Grundnahrungslandwirtschaft. Diese existiert fast nur noch für den Eigenbedarf, mit eigenem Saatgut – für die Herrschenden der Inbegriff von „unproduktiv“. Wie wird aus „unproduktiv“ „produktiv“, aus Subsistenz Profittreiberei? Man starte mit einem Mea culpa der besonderen Art. Die Medien, sonst im Dauerhosianna auf die letzte IWF-Weisheit, geben plötzlich solches zum Besten: „Die internationale Nahrungsmittelteuerung lässt ein Rezept schlecht aussehen, das man anfangs der 90er Jahre auf Verlangen der Internationalen Organisationen im Land anzuwenden begann: Nahrungsmittel zu importieren, anstatt sie zu produzieren. Nach fünfzehn Jahren der Privilegierung dieser Politik gibt nun die Regierung zu, sich getäuscht zu haben“ (La Prensa Gráfica, 3.4.08). Der Landwirtschaftsminister säuselte: „Das Rezept hat zu seiner Zeit funktioniert, doch heute nicht mehr, und es wird uns bewusst, dass wir die Nahrungssicherheit garantieren müssen“ (s.o.). Ricardo Esmahán, damals Chef der Agrarkammer und heute Wirtschaftsminister, wusste: „Die Importpolitik ist beendet und wir müssen die notwendigen Reformen angehen, um eine grössere Produktivität der Landwirtschaft zu erzielen“ (s.o.).

Was „grössere Produktivität“ meint, verdeutlichte der ehemalige Vizepräsident des Landes, Francisco Merino: „Das Pachtgesetz ist notwendig, da die Besitzer unproduktiver Parzellen nicht über die Finanzkraft verfügen, um sie produktiv zu machen“ (Diario de Hoy, 22.4.08).. Die FMLN-Exponentin Norma Guevara erläuterte: „Das Dekret zwingt die Besitzer von Kleinparzellen, diese für Jahrzehnte an andere Herren zu vermieten, die Geld haben, von aussen kommen und ‚investieren und exportieren’“ (Co-Latino, 28.4.08). Auch der oben erwähnte Vizefraktionschef von Arena setzt auf ausländische Investoren. Der Plan: Die faktisch enteigneten Parzellen werden in neuem Grossbesitz zusammengefasst, um für die Produktion von Agrotreibstoff, touristische Projekte und den Anbau von gentechnisch manipulierten Exportprodukten.

Die Saat des Señor Cristiani
Schon seit Jahren betreibt das Agrarministerium eine aggressive Politik der Verdrängung von traditionellem Saatgut., das die BäuerInnen aus der Ernte gewinnen. Sie werden mit Versprechen und Lockangeboten bei Pestizid- und Düngerpaketen dazu genötigt, eigenes Saatgut gegen „verbessertes“ umzutauschen. Der Begriff wird in El Salvador meist für Hybrid-, aber auch für GVO-Saatgut verwendet. Ende April stimmten nun ARENA und zwei ihrer Satellitenparteien für die Streichung eines Artikels im Saatgutgesetz, welches GVO-Artikel verboten hatte. Einer der beteiligten ARENA-Parlamentarier, Vicente Menjívar, machte unfreiwillig auf Sarkasmus: „Die Einführung gentechnisch veränderten Saatgutes im Land ist unverzichtbar, um die Biodiversität in den Entwicklungsländern zu schützen“ (Co-Latino, 30.4.08). Warum das eilte, erfuhr man am 10. Juli: Das Unternehmen Semillas Cristiani Burckhardt des früheren Präsidenten gleichen Namens wurde von Monsanto aufgekauft. Es kontrolliert im Land 70% und in Zentralamerika weitere grosse Anteile aller Saatgutimporte.

Die Enteignungsoffensive via „Pacht“ und Gentech wird propagandistisch als Kampf gegen die Nahrungsmittelkrise verkauft. Um von dieser einen Eindruck zu gewinnen: Schon letztes Jahr stiegen die Preise für die Grundnahrungsmittel bedrohlich an. Am 14. Juni 2008 berichtete die Tageszeitung Co-Latino, der Preis für rote Bohnen habe sich in den vergangenen drei Monaten verdoppelt und der Verkauf von Grundnahrungsmitteln sei um die Hälfte zurückgegangen. Das deckt sich mit der Aussage des Vertreters des UNO-Welternährungsprogramms vom letzten Mai, wonach der Preisanstieg bei Öl und Nahrung in El Salvador die Kaufkraft der Bevölkerung für Nahrungsmittel um die Hälfte reduziert habe (Notimex, 28.5.08). Der „Economist“ schreib am 17. April 2008 von einem 50-prozentigen Kaufkraftverlust der „Armen“.

Die salvadorianische Regierung geht zielstrebig daran, Erntekontingente an Grundnahrungsmittel in Nicaragua, Honduras, Guatemala und Belice mit langfristigen Verträgen abzusichern, was einer Art Landmiete im Ausland gleich kommt. Was als regionale Solidarität begrüsst werden könnte, steht leider in einem trüben Zusammenhang: Die „Hilfe“ aus Honduras oder Nicaragua soll es El Salvador ermöglichen, sein Land für Höheres, nämlich die in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Präsidenten Lula favorisierte Agrotreibstoffproduktion für den US-Markt, zu reservieren.
Wir haben die „innere“ Landmiete angeschaut. Werfen wir nun einen Blick auf ihre „äussere“ Form.

„Produktive Grosseinheiten für neue Technologien“
Grain, die NGO für eine nachhaltige und von den ProduzentInnen kontrollierte Landwirtschaft, schreibt: „In vielen Teilen der Welt installieren Regierungen und Unternehmen Grossplantagen und verdrängen die BäuerInnen und die lokal ausgerichtete Produktion. Einigen Quellen zufolge hat Japan in Südostasien, China und Lateinamerika 12 Mio. h für die Produktion und den Export von Nahrungsmitteln akquiriert, was einem Dreifachen seines heimischen Anbaugebietes entspräche. Die libysche Regierung leaste 200'000 ha in der Ukraine für ihren Nahrungsimport und die VAE kaufen grosse Ländereien in Pakistan. Letztes Jahr unterschrieb die philippinische Regierung“ gegen wütende Proteste in der Bevölkerung „ eine Reihe von Abkommen mit Beijing, welche es chinesischen Unternehmen erlauben, Land für Reis- und Maisanbau für den Export nach China zu leasen“ (17.6.08).

Die New York Times gewährt uns einen Blick auf die andere Seite dieser … Agrarreform. Diana Henriques schrieb: „Drei institutionelle Investoren, darunter die gigantische BlackRock-Fondsgruppe aus New York, planen getrennt voneinander Hunderte von Millionen von Dollars in die Landwirtschaft zu investieren, vor allem in Agrarland vom Afrika südlich der Sahara bis zur englischen Landschaft. ‚Es geht was ab’, sagte Brad Cole, Präsident der Cole Partners Asset Management in Chicago, welche einen auf Rohstoffe spezialisierten Hedgefonds betreibt. ‚Es gibt ein beträchtliches Interesse an dem, was wir die „Eigentumsstruktur“ (owning structure) nennen, - wie US-Farmland, argentinisches Farmland, englisches Farmland – wo immer das Profitbild sich bessert’ […] Die Investoren planen, kleine Landparzellen in produktivere Grosseinheiten zu konzentrieren, um neue Technologien einzuführen […] ‚Die Welt verlangt nach mehr Nahrung und Energie’, sagte Axel Hintsch, CEO von Calyx Agro, einer Division der gigantischen Louis Dreyfus Commodities, welche mit der Unterstützung grosser institutioneller Investoren wie AIG Investments zehntausende von Acres Ackerland in Brasilien aufkauft“ (NYT, 5.6.08: „Food is Gold, So Billions Invested in Farming“).

In der WoZ vom 3.7.08 thematisiert Jürgen Vogt aus Argentinien „teilweise riesige Saatpools, die seit einigen Jahren einen Aufschwung erleben. Diese Saatpools funktionieren ähnlich wie Anlagefonds. InteressentInnen stellen einen Plan auf, was mit welcher Rendite und wo angebaut werden soll. Das Land dafür wird grösstenteils gepachtet. Dann werden InvestorInnen gesucht und Anteile verkauft“. Diese Pools konzentrieren sich auf die GVO-Soja-Monokulturen. Eduardo Gudnyas vom „Centro Latino Americano de Ecología Social” in Uruguay schreibt, dass sich vor allem im Cono Sur “Pachtverträge oder Verwaltungsverträge verbreiten, mittels derer ein verarmter oder verschuldeter Bauer die Kontrolle über sein Land abgibt. Es kommen Agrarverwalter, die an grösster Profitablität orientierte technologische Pakete einsetzen. Sie laugen während der paar Vertragsjahre den Boden maximal aus und ziehen, sobald die Erträge zurückgehen, schlicht in die nächsten Ländereien weiter. Der Bodenbesitz als bestimmender Faktor wird ersetzt durch die Kontrolle über die produktiven Prozesse“ (alai, 8.7.08).

Die ökologische Zerstörung wird wie die soziale also nochmals potenziert, der Boden wird zum Instrument für kurzfristige Profitmaximierung. In Lateinamerika steht die Landreform dank der bolivarischen Erfahrung wieder auf der Tagesordnung. Unproduktives, brach liegendes Land bezog sich auf die unermesslichen Ländereien, welche GrossgrundbesitzerInnen aus Gründen der Spekulation, der Viehmast oder der In-Armut-Haltung der Arbeitskräfte ihr eigen nennen. Doch jetzt soll der Begriff „unproduktiv“ wieder die unten denunzieren und er kommt erneut unter dem perversen Anschein der globalen Caritas daher. Kriegszeiten.

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Die Stunde der Vía Campesina

Peter Rosset*

Weltweit scheint die Stunde der Vía Campesina gekommen. Während über zehn Jahren hat die globale Allianz der BäuerInnenorganisationen einen alternativen Vorschlag für die Nahrungssysteme der Länder, die Nahrungssouveränität, entwickelt. Letztes Jahr wurde im Weltforum für Nahrungssouveränität in Mali festgehalten, dass diese Debatte bei anderen sozialen Bewegungen wie jener der indigenen Völker, der Frauen, der KonsumentInnen, der UmweltschützerInnen, einigen Gewerkschaften und anderen an Boden gewonnen hat. Aber auf der Ebene der Regierungen und der internationalen Organisationen stiess sie mehr oder weniger auf taube Ohren. Aber jetzt nicht mehr. Die weltweite Krise der Nahrungspreise bewirkt, dass sich alle für dieses Thema interessieren.

[Rosset streift einige lang- und kurzfristige Ursachen für die aktuelle Krise, wie sie weitgehend in „Den Hunger organisieren“ beschrieben sind.] Angesichts [des aktuellen] Panoramas und seiner Implikationen für die Zukunft sticht ein einziger Vorschlag hervor, welcher der Aufgabe gewachsen ist. Mit dem Konzept der Nahrungssouveränität schlagen die sozialen Bewegungen und eine wachsende Zahl von progressiven und halbprogressiven Regierungen vor, die Nahrungsmärkte wieder zu regulieren, die unter dem Neoliberalismus dereguliert wurden. Und sie zudem besser als früher zu regulieren, mit einer realen Verwaltung des Angebots, die es ermöglicht, Preise zu finden, die sowohl für die Produzenten wie für die Konsumenten gerecht sind.

Dies bedeutet, die nationale Produktion wieder zu schützen, sowohl gegen das Dumping mit importierten, künstlich billigen Lebensmitteln, welche die nationale Produktion untergraben, wie auch gegen künstlich verteuerte Lebensmittel wie jetzt. Das bedeutet, die öffentlichen Getreidereserven und die parastaatlichen Kommerzialisierungssysteme [für Grundnahrungsmittel] wieder aufzubauen, diesmal in verbesserter Form, unter fundamentaler Beteiligung der bäuerischen Organisationen an ihrer Verwaltung. Damit wird den Multis die Kontrolle über unser Essen genommen. Es bedeutet auch, die Wiederherstellung der nationalen Produktionskapazität zu betreiben, die sich auf den bäuerischen und familiären Sektor stützt, und zwar mittels staatlicher Budgets, garantierten Preisen, Krediten und anderer Unterstützungsmassnahmen. Es beinhaltet eine wirkliche Landreform. Diese ist in vielen Ländern dringend nötig, um den bäuerlichen und familiären Sektor zu rekonstruieren, dessen Berufung darin liegt, Nahrung herzustellen. Denn das Latifundium und das Agrobusiness pflegen nur für das Auto und den Export zu produzieren. Und es müssen, wie das einige Länder in den letzten Tagen getan haben, Massnahmen gegen den Zwangsexport von Lebensmitteln eingeführt werden, welche die nationale Bevölkerung braucht.

Zudem bedarf es eines Wechsels von der aktuellen Produktionstechnologie hin zu einer nachhaltigen, agroökologischen Produktionsweise, die vom Respekt für das Gleichgewicht der natürlichen Ressourcen, von der lokalen Kultur und vom traditionellen Wissen ausgeht. Es ist erwiesen, dass die agroökologischen Produktionssysteme sogar produktiver sein können, der Dürre und anderen Klimaveränderungen besser widerstehen und wegen ihres niedrigen Verbrauchs von energetischen Ressourcen wirtschaftlich nachhaltiger sind. Denn wir können uns den Luxus von Lebensmitteln nicht mehr leisten, deren Preis ans Öl gebunden ist, und noch weniger, die künftige Bodenproduktivität mit industrieller Landwirtschaft zu schädigen, die auf grossflächige, mechanisierte Monokulturen voller Gifte und gentechnisch veränderter Organismen ausgerichtet ist.

Es ist also die Stunde der Vía Campesina und der Nahrungssouveränität. Es gibt kein anderes Mittel, um die Welt zu ernähren, und es liegt an uns allen, uns massenhaft für die so nötigen Veränderungen der öffentlichen Politik auf nationaler und internationaler Ebene zu mobilisieren.

* Peter Rosset arbeitet bei Food First (USA, auch Institute for Food and Development Policy genannt) und bei Vía Campesina. Mitautor u.a.: Joseph Collins, Francis Moore Lappé, Peter Rosset: World Hunger, 12 Myths. 1998.

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Der Landkrieg

Der argentinische Agrarkonflikt verkündet Unheil – eine soziale Mobilisierung von oben versus eine technokratische Regierung.

Sergio Ferrari

(Ende Juni 2008) Seit Anfang März bekämpfen die landwirtschaftlichen Produzenten Argentiniens die Regierung und ihr Wirtschaftsprojekt. Grund: Die neue Politik der Abzüge, welche Cristina Kirchner erheben will. Es handelt sich um eine regelrechte Exportsteuer und um die riskanteste Massnahme der Präsidentin, die letzten Dezember mit einer bequemen Mehrheit das Amt ihres Gatten, Néstor Kirchner, geerbt hatte. Die anhaltende Spannung hat zu einer zunehmenden politisch-sozialen Zersetzung geführt, mit einem speziell besorgniserregenden Höhepunkt in der ersten Juniwoche, als es in den Städten zu Versorgungsengpässen mit Lebensmitteln gekommen war.

Für Ende Juni haben die Agrarproduzenten die vorläufige Aufhebung ihrer Zwangsmassnahmen beschlossen und der Kongress wird die Abgabenpolitik erörtern. Bei Redaktionsschluss dauert die parlamentarische Debatte noch an. Die Heftigkeit der Konfrontation such ihresgleichen in der jüngeren Geschichte. Nach dem “Centro de Estudios Nueva Mayoría” (Studienzentrum Neue Mehrheit) kam es landesweit zu 2539 Strassensperren – 2002, im Jahr der Wirtschaftskrise und aufständischen Proteste, die den damaligen Präsidenten De la Rúa zum Rückzug gezwungen hatten, waren es 2336. Dem Studienzentrum zufolge gehen dieses Jahr bisher 9 von 10 Strassensperren auf die Landwirtschaft zurück, was eine bisher nicht dagewesen Boykottmacht und Mobilisierungskapazität aufzeigt. Das führt politische Beobachter dazu, von einer eigentlichen “Partei der Landwirtschaft” zu reden, die sich in radikaler Konfrontation mit der Regierung und ihren parteipolitischen Strukturen befinde.

Das Spektrum der protestierenden Organisationen reicht von der konservativen Sociedad Rural Argentina – welche die 1000 Grossgrundbesitzer organisiert, die Basis fast aller konservativen Staatsstreiche in der Geschichte des Landes – bis zur Federación Agraria Argentina (FAA), die früher die Plattform für 100’000 kleine und mittlere Produzenten war. Andere bäuerische Organisationen distanzieren sich von diesem Sektor und kritisieren sowohl die Regierung wie auch den reaktionären Charakter des grossen Agrarzusammenschlusses.

Die Soja im Ursprung des Konflikts
Die Abgaben sind eine nationale Steuer auf Exporte von Getreide, Ölfrüchten und Derivaten. Sie will einen Teil der Agrarprofite absaugen, und zwar insbesondere der ausserordentlichen Gewinne seit der internationalen Preishausse, speziell bei Soja. In der Regierungsrhetorik sollen diese zusätzlichen Mittel der Einkommensumverteilung den unterprivilegierten Sektoren zugute kommen, insbesondere auf der Ebene der Sozialpläne (Arbeitslosengelder), Gesundheit und Erziehung. Die Opposition stellt dieses Argument in Frage. Trotz ihrer politischen Bedeutung trug die Landwirtschaft 2007 nur 5.3% zur nationalen Wirtschaft bei. Sie lag als achter Wirtschaftssektor beträchtlich hinter der Industrie, dem Bau, dem Engros- und dem Detailhandel etc. zurück

Wurden 1980 in Argentinien 20 Mio. ha angebaut, davon 8% mit Soja, waren es 2006/07 noch 15 Mio., aber mit einer 52%-Steigerung der Anbaufläche für Soja. Das meint man mit dem Begriff “Sojisierung der Landwirtschaft”, eine explosive Ausdehnung dieses Produkts zulasten anderer Erzeugnisse, vor allem von Getreide wie Mais, Weizen, Hafer, Gerste oder Reis. Der Begriff schliesst auch eine enge Beziehung eines Teils dieses Produktionssektors mit grossen Nahrungsmultis ein.

Auch wenn die oppositionellen Sektoren der Regierung eine schlechte Absicht bei der Abgabenerhöhung vorwerfen, zeigen die offiziellen Zahlen eine andere Realität. 2007 betrug der internationale Sojapreis 317 Dollar/Tonne, womit die Produzenten bei einer Abgabe von 35% netto $206 erzielten. Im Februar 2008, als der Konflikt anfing, stieg der internationale Tonnenpreis um 60% auf $508. Auch wenn die Regierung unterdessen die Abgabe auf 40% erhöht hat, blieben jetzt netto $304 bei den Produzenten. Das stellt gegenüber der Situationen von einigen Monaten zuvor einen Gewinnzuwachs von 47% dar. Ohne neue Investitionszwänge und trotz höherer Abgabe profitiert also der Sojaexportsektor weiterhin.

Gewinne versus Hunger
Adolfo Pérez Esquivel, Friedensnobelpreisträger von 1981, schrieb in seinem kürzlich verfassten Artikel “Grandezas y miserias del conflicto”: “Die grossen nationalen und transnationalen Sojaunternehmen manipulieren, um die Regierung klein zu kriegen. Sie verdienen Millionen, sind es aber nicht zufrieden, sie wollen mehr, mehr und noch mehr; es interessiert sie weder die Umweltzerstörung noch die Auswirkung des ungezügelten Gebrauchs von Agrogiften auf die Gesundheit und Nahrung der Bevölkerung”. Esquivel, der auch die Regierung für eine Reihe von Fehlern kritisiert, beharrt auf der Verantwortung jener Agrarsektoren, welche die grosse Mehrheit ihrer Böden für Soja reservieren und damit “Milchbetriebe und Gegenden für die Erzeugung von Nahrungsmitteln” eingehen lassen.

Mit dieser Einschätzung ist auch der ehemalige Bischof der argentinischen Methodistenkirche, Aldo Echegoyen, einverstanden. Er unterstreicht, dass “der Kampf einen tragischen Hintergrund hat: Mangel und Preiserhöhung für die Lebensmittel weltweit”. Die Landeigentümer haben, so der langjährige Kämpfer für Menschenrechte, in fünf Jahren dreissig Milliarden Dollar gewonnen. Es gehe ihnen jetzt nicht einfach um die Abgaben, sondern um den Profit auf den Nahrungsmitteln, um nicht mehr und nicht weniger. Der Kampf läuft “zwischen dem Geld und dem Hunger. Es ist illegitim, ein volles Bankkonto zu haben, wenn die Bäuche der Armen leer sind”, schliesst Echegoyen.

Kasten1
Landmonopolisierung
(SF) Nach Angaben des Centro Arturo Jaureche haben 9.8% aller Landwirtschaftsbetriebe eine Fläche von mehr als 1000 ha und erstrecken sich damit auf 78% des gesamten Kulturbodens. Die restlichen 90.2% der Höfe haben weniger als 1000 ha und repräsentieren kaum 22% der Gesamtanbaufläche.
Bodenkonzentration impliziert auch Gewinnkonzentration. Damit erhellt sich, wer die “Hauptbetroffenen” des Abgabenregimes sind. Experten kreiden der Regierung con Cristina Fernández Kirchner den schweren politischen Fehler an, zu Beginn für die ganze Landwirtschaft nur einen einzigen Abgabesatz vorgesehen zu haben. Ohne also zwischen den Grossgrundbesitzern und den Kleinproduzenten zu unterscheiden. Dieser Fehler führte zur Vereinigung der historisch getrennten Sektoren der Landwirtschaft.

Kasten2
Die armen Bauern
Die Wirklichkeit ist komplexer als ihre Darstellung in den grossen argentinischen Medien als Konflikt zwischen einem “geeinten Landwirtschaftssektor” und der Regierung. Ein grosser Sektor von armen Bauern hat sich gegen die agrarische “Aussperrung” ausgesprochen. Am 17. April, dem Internationalen Tag des bäuerischen Kampfes, haben sich dreissig Campesinoorganisationen zum Frente Nacional Campesino zusammengeschlossen, darunter die Campesinobewegungen von Formosa, Santiago del Estero, Jujuy, indigene Bewegungen, Kooperativen aus der städtischen Peripherie und das historische Movimiento Agrario Misionero mit seiner bekannten antidiktatorialen Vergangenheit.
Das Gründungsdokument hält fest, dass sich die Unterschreibenden nicht repräsentiert sehen “in den verschiedenen Sektororganisationen, die sich in den Strassensperren ausgedrückt und die Unterversorgung unseres Volkes verursacht haben”. Die Unterzeichnenden, die international in Vía Campesina organisiert sind, sprechen sich für die Nahrungssouveräntität und eine integrale Landreform aus und weisen das Soja-Agroexportmodell zurück. Sie verlangen ein sofortiges Ende der von dieses Grossproduzenten in Kooperation mit der Justiz, den staatlichen Repressionskräften und den bewaffneten Privatwachen durchgeführten Landräumungen.
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Nachtrag
(dd) Anfangs Juli beerdigte der Senat mit Stichentscheid des Vizepräsidenten das Vorhaben der Regierung. Damit hat die Rechte die grösste soziale Auseinandersetzung seit der antineoliberalen Revolte von 2001/2002 für sich entschieden. Für den linken argentinischen Ökonomen Claudio Katz reflektiert der Parlamentsentscheid nichts anderes als die Stärke der Rechten auf der Strasse, welcher der Regierung Kirchner und dem von ihr geführtem Lager stets überlegen waren. Auch Katz spricht in seiner Analyse „Vencedores y vencidos“ und „el agro-capitalismo de la soja“ (Rebelión, 26.7.08 und 27.7.08) von einer rechten Massenmobilisierung unter dem Kommando des Agrarkapitals. Eine besondere Erwähnung verdienen ihm einige „linksradikale“ Gruppen (z.B. der maoistische PCR), welche ihre roten Fahnen der Sociedad Rural bzw. „dem Streik“ angedient haben. Ein „Streik“, wie Katz anmerkt, bei dem BäuerInnen unter Anleitung der Agrarkapitalisten Strassen sperren, während die LandarbeiterInnen der letzteren keinen Moment von der Arbeit dispensiert waren.
Katz schreibt: „Der Ruralismo [die reaktionäre Mobilisierung um die Agrarfrage] gewann, weil er eine Richtungsänderung der Mittelschicht kanalisierte, die von der Infragestellung der Korruption („alle sollen gehen“) in die konservative Revolte übergegangen ist. Diese Wendung begann mit [den stockreaktionären Mobilisierungen gegen Unterklassenkriminalität des Unternehmers] Blumberg, verstärkte sich mit dem Triumph von Macri [einem putschistischen Politiker, der letztes Jahr die Bürgermeisterwahlen in Buenos Aires gewann] und mündete nun in dieses Taschenepos […] Das reaktionäre Klima zeigte sich bei den Teflon-Cacerolazos (Pfannendemos), welche die Ablehnung von „Tyrannen“ manifestierten und verlangten, dass „das Thema Menschenrechte“ beendet werde“. Katz unterscheidet zwischen KleinbäuerInnen (50 bis 60 ha), die im Anbau von Grundnahrungsmitteln, nicht von Soja, aktiv sind und sich nicht an den Strassensperren beteiligt haben und den mittleren BäuerInnen (100 bis 150 ha). Diese pflanzen Soja an und mieten dafür teilweise Land hinzu. Sie identifizieren sich mit den GrossunternehmerInnen und befürworten die Exportlogik.
Umgekehrt sei das Lager K (nach dem Präsidialpaar) nicht mit einer linken Position zu identifizieren. Seine Umverteilungsrhetorik habe die reale Zweckbestimmung der Abgaben verschleiert: die fortgeführte Schuldenzahlung und die Subventionierung der Grossindustrie. Ein Motiv der Niederlage sieht Katz nicht zuletzt in der Weigerung des peronistischen Apparates von Kirchner, auf eine linke soziale Mobilisierung zu setzen – seine Differenzen mit der Sociedad Rural in der Abgabenfrage seien dem Versuch geschuldet, zwischen verschiedenen Interessen zu vermitteln, um eine Klassenpolarisierung wie vor sechs Jahren zu vermeiden. Nicht zufällig habe die Regierung die ruralistischen Oppositionellen mit Sandhandschuhen angefasst, während gegen linke Basisinitiativen mit aller repressiver Härte vorgegangen werde.