Samstag, 20. Februar 2016

Venezuela: Wirtschaft als Fiction und als Realität



(zas, 20.2.16) Die Szene spielte sich vor wenigen Tagen an einer Veranstaltung des Solinetzwerks Alba Suiza in Basel ab. Mitten in den Ausführungen des Referenten Carolus Wimmer von der venezolanischen KP über manipulative Hintergründe der chavistischen Niederlage bei den Parlamentswahlen letzten Dezember verlangte ein Herr ungehalten, die „beschissenen Warteschlangen“  zur Sprache zu bringen,  im Ton von „Schluss mit billigen Ausflüchten“! 
 
Der Mann folgte damit brav dem im Mainstream verbreiteten Muster, Schein und Sein zu verwechseln. Die tatsächlich extrem beschissenen Warteschlangen seien Schuld der Regierung. Ein Mantra, wie es gerade gestern wieder die NZZ runter betete (In Venezuela zerrinnt die Zeit): „Laut dem Harvard-Ökonomen Ricardo Hausman schlittere Venezuela in diesem Jahr nicht nur in den wirtschaftlichen Kollaps, sondern auch in eine humanitäre Krise. Verstaatlichungen, ein kompliziertes Wechselkursregime sowie rigorose Kapital- und Preiskontrollen haben den produktiven Sektor zum Erliegen gebracht. Heute ist Venezuela von Importen abhängig, um die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten. Da die Dollars fehlen, herrscht ein akuter Engpass. Davon zeugen nicht nur die Menschenmengen, die vor Supermärkten Schlange stehen, sondern auch die steigenden Todesfälle in Spitälern, wo Medikamente und Ausrüstung fehlen.“ (Den  gefährlichen Diskurs von der „humanitären Krise“ in Venezuela hatte letzten Oktober John Kelly, Chef des Südkommandos der US-Streitkräfte, eingeführt, als er sagte, im Fall einer durch einen wirtschaftlichen Kollaps provozierten „humanitären Krise […] könnten wir reagieren und täten dies via Organisationen wie die UNO, die OAS oder die FAO.“)

Die an der venezolanischen Universidad Simón Bolívar lehrende Ökonomin Pasqualina Curcio Curcio hat letzten Dezember mit eine Desabastecimiento e inflación en Venezuela schlagende Widerlegung solcher Propagandalügen publiziert.  
Pasqualina Curcio

Sie skizziert zuerst anhand der üblichen Wirtschaftstheorie die geläufigen „Erklärungen“ der lokalen und transnationalen Rechten zur Wirtschaftskrise in Venezuela. Mangelversorgung ergibt sich demnach aus einem der folgenden Gründen: 

a-     sinkendes Angebot (sinkendes Bruttoinlandprodukt, BIP, und im Fall Venezuelas, sinkende Importe)
b-     stärker als BIP und Importe wachsende Konsumnachfrage
c-     veränderte Erwartungen (wer mit einer Teuerung rechnet, kauft heute mehr ein, und bewirkt deshalb, falls das ein Massenverhalten ist, einen Mangel).

Zum Thema Inflation beschreibt Curcio die üblichen Herleitungen:

a-     Die Gesamtnachfrage (der Haushalte, des Privatsektors, des Staates und, via Importe, des  Auslands) übersteigt das Gesamtangebot, oder
b-     aus monetaristischer Sicht, das Geldvolumen ist im Verhältnis zum Angebot zu gross.
Schliesslich geht Curcio auch auf den in Venezuela wichtigen und nach oben schnellenden Wechselkurs des Dollars zum Bolívar ein. Dafür zirkulieren in der Rechten zwei Theorien:
a-     Die Dollarreserven im Land sinken, was den Bolívar im Vergleich zum Dollar verbilligt, oder
b-    Für den Import von Lebensmitteln oder Produktionsgütern braucht der Privatsektor staatliche Dollars, die seit der Einführung der Devisenkontrolle 2003 nicht mehr frei erhältlich sind (97-98 % der Deviseneinnahmen gehen auf den Export von staatlichem Erdöl zurück). Der Staat stellt infolge seiner „Misswirtschaft“ dem Privatsektor zu wenig Güter Devisen zur Verfügung, was den Import einschränkt  erschwert, mit zwei Folgen: 1. die Preise der Importgüter steigen wegen der grossen Nachfrage, und 2. sieht sich der Privatsektor gezwungen, auf dem Schwarzmarkt teure Dollars zu erwerben.

An diese Herleitungen knüpft der Begriff der „populistischen Misswirtschaft“ an, den Politik und Medienkartell im pawlow’schen Modus zum Thema Venezuela anbringen. In ihrem 43-seitigen Papier belegt Curcio, dass das schlicht falsch ist. Sie füttert die gängigen Wirtschaftstheorien mit den statistischen Daten der Volkswirtschaft. Das Resultat: In Venezuela sollte das Gegenteil einer Unterversorgung vorherrschen und Teuerung und Wechselkurs sollten weit unter dem aktuellen Niveau liegen. Curcio schlussfolgert daraus: Die bedrückende Wirtschaftslage ergibt sich nicht aus makroökonomischen Faktoren, sondern hauptsächlich aus der politisch motivierten Manipulierung des Wechselkurses.

Kontext
Bevor wir Curcios Ermittlungen in Wirtschaftskrieg zusammenfassen, einige Hinweise auf den Kontext. 2002 fand ein Putsch gegen Chávez statt, der nach seinem Scheitern in eine intensive reaktionäre Unternehmeroffensive zwecks Blockierung der Ölproduktion und generell der Wirtschaft überging. Mit einer riesigen Kapitalflucht sollte die Krise zum Kollaps verschärft werden. Unterklassenmobilisierungen und –Organisation, aber auch die dann eingeführte Devisenkontrolle vereitelten das Unterfangen. Von  nun an schien der Staat über die Dollarreserven des Landes, fast zu 100 % aus dem Export staatlichen Erdöls stammend, zu bestimmen.  Aus Sicht der Rechten verprasste der „Populismus“ den Dollarsegen mit nicht tragfähigen Sozialprogrammen und Schenkungen billigen Öls ins verarmte Ausland. Dafür habe er dem heroischen Privatsektor die nötigen Dollars verwehrt, die dieser doch brauche, um importgestützt die Wirtschaft anzukurbeln (s. die NZZ-Leier oben). Ergebnis: Die Preise der Importgüter und der Schwarzmarktkurs des Dollars schossen in schwindelerregende Höhen.  Was Dies entsorgte die staatliche Wechselkursregulierungssucht in den Bereich von Traum und Schaum (6 Bolívares oder Bs. zu einem US$ für Importe von Grundbedarfsartikeln u. a. bei einem Schwarzmarktkurs von derzeit über 1‘000 Bs.).

Kommt dazu, so das Mediendauerbombardement in Venezuela, dass der „Populismus“ für eine Reihe von Alltagsartikeln Höchstpreise festgelegt hat. Damit hat er die „Marktkräfte“ „gezwungen“, in den Schwarzmarkt zu gehen. (Höchstpreise, nota bene, die eine 30 % -Gewinnmarge auf die angegebenen Importkosten in Dollar schlagen. Die Importdollars in den meisten Fällen eben zu 6. Bs, nicht 1000. Ein Detail, das im Schwarzmarktzwang vergessen geht.)

Unterversorgung – Lüge und Wirklichkeit
Die chavistische Ökonomin fasst einleitend einige ihrer Befunde so zusammen:

„Die Unterversorgung  […] ist nicht einem Rückgang der Produktion geschuldet - die Produktionshöhe, gemessen im Bruttoinlandprodukt BIP und im Agrar-Bruttoinlandsprodukt BIPA, nahm von 2003 [Jahr der Einführung der Devisenkontrolle] bis 2013 um 75 % bzw. 25 % zu, während die Arbeitlosenquote um 62.5 % zurückging. Sie ist auch nicht einem Rückgang der Importe geschuldet - diese haben, in US$ gemessen, von 2003 bis 2013 total um 388.9 % und im Agrarbereich um 571 % zugenommen. Sie wird auch nicht dadurch verursacht, dass die Regierung dem Privatsektor zu wenige Devisen übergegeben hätte - diese stiegen von 2003 bis 2013 um 442 %. Auch eine relativ starke Zunahme des Konsums erklärt die Unterversorgung nicht - der Konsum der Haushalte und der Regierung sowie des intermediären Sektors hat zwar um 83 % zugenommen, aber weniger als die Gesamtproduktion samt Importen.“

Auf den folgenden Seiten erläutert Curcio diese Befunde der ökonometrischen Analyse statistischer Angaben.  Doch wenn es nicht die von rechts stets behaupteten Faktoren sind, welche führen dann zu dem realen Mangelphänomen? In der einleitenden Zusammenfassung schreibt sie dazu: „Die Unterversorgung wird durch einen Mangel an Angebot von Grundbedarfsartikeln bewirkt, der seinerseits von drei Faktoren in dieser Reihenfolge bestimmt wird: 1. Relative Abnahme der Importe in Kilo gegenüber einer Zunahme der Importe in US$. Der Privatsektor gebraucht nicht alle ihm zugeteilten Devisen für den Import von Gütern. Ein Indikator dafür sind die durchschnittlichen Importkosten, die von 0.83 US$ pro Kilo im Jahr 2003 auf 2.34 US$ im Jahr 2013 stiegen. 2. Horten von Grundbedarfsartikeln, hauptsächlich nicht vergänglichen, die von Monopolen und Oligopolen produziert und verteilt werden. 3. Verkauf der Waren auf anderen Märkten: Schmuggel ins Ausland.“
Einige Punkte im Bereich der Unterversorgung seien hervorgehoben. Die folgende Grafik reflektiert die Beziehung zwischen PIB und Mangel. (Den Mangelindikator bestimmt die Zentralbank anhand monatlicher Erhebungen in 27‘000 Verkaufsstellen). Erinnern wir uns: Logik und Theorie sagen: bei steigender Produktion weniger Mangel. Zur Grafik unten schreibt Curcio: „Wir beobachten, dass es für die Jahre 2006 und 2007 einen höheren Mangelindex gibt, trotz der Steigerung der nationalen Produktion. Ähnlich ist die Lage für 2011. Im Gegensatz dazu registrieren wir für die Jahre 2008 bis 2011 einen fallenden Mangelindex trotz abnehmender nationaler Produktion. Kurz, der Mangelindex in der Wirtschaft liegt nicht an einer fallenden nationalen Produktion“.


Hohe Arbeitslosigkeit deutet wegen Betriebsschliessungen und geringerer Konsumnachfrage gemeinhin auf ein rückläufiges BIP. Doch auch dies stimmt nicht in Venezuela. Von 2003 bis 2013 ging die Arbeitslosigkeit um 62.5 % zurück, während der Mangelindex stieg. Gleiches gilt für den Bereich Agrar-BIP/Mangelindex. Curcio: „Da die meisten Mangelprodukte den Ernährungskorb betreffen, wollten wir die Agrarproduktion, gemessen (zu konstanten Preisen von 1997 in Milliarden Bs.) als Agrar-BIP  mit dem Mangelindex vergleichen. Das Resultat ist ähnlich wie beim Gesamt-BIP. Es existiert keine empirische Beziehung zwischen Mangelindex und Agrar-BIP. Dieses weist im Gegenteil eine wachsende oder mindestens stabile Tendenz auf.“
 
Auch die Importe erklären das „Rätsel“ nicht. Curcio: „Von 2003 bis 2008 stiegen die Gesamtimporte [um das Vierfache], und doch beobachten wir einen steigenden Mangelindex für diese Jahre … Wir beobachten auch für die Jahre 2008/2009 rückläufige Gesamtimporte, die sich nicht in einem steigenden Mangelindex widerspiegeln, der im Gegenteil fällt. Ab 2010 nehmen die Importe zu und der Mangelindex steigt ab 2011. Mit anderen Worten, es gibt keinen Zusammenhang zwischen Mangelindex und Gesamtimporten. Deshalb ist das Argument von Oppositionssektoren falsch, wonach die Unterversorgung in Venezuela wegen eines Importrückgangs aufgrund mangelnder Devisenbereitstellung durch die Regierung existiert.“  Das Gleiche gilt für die Agrarimporte, die im Zeitraum 2003-2013 um 571.7 % steigen (in US$).

Womit wir bei einem Lieblingsthema der Rechten wären – der „Devisenmisswirtschaft“. Wie gesagt, der Staat hat die Dollareinnahmen und stellt die Devisen für Importe zur Verfügung. Dazu Curcio: „Die Erhöhung der GesamtImporte von 2003 bis 2013 um 388.9 % erfordert in Venezuela aufgrund der Charakteristik als Land des Monoexports von Erdöl die Zurverfügungstellung von Devisen für den Privatsektor durch den Staat. Von 2003 bis 2013 erhielt der erste vom letzteren 304.7 Mrd. US$, 2003 waren es 5.695 Mrd. US$, 2013 waren es 30.859 Mrd. US$.  Dies entspricht einer Zunahme um 442 %.“

Bleibt von den von rechts stets genannten Ursachen der Unterversorgung bloss noch der Konsum (der Haushalte und der Intermediären) übrig. Doch der hat im Untersuchungszeitraum „bloss“ von etwas unter 60 Mrd. US$ auf etwas unter  100 Mrd. US$ zugenommen, deutlich weniger also als BIP plus Importe. Er kann also unmöglich für die Unterversorgung „haftbar“ gemacht werden. Zwischen den Kurven von Konsum, PIB, Importen und Mangel gibt es keinen logischen Zusammenhang. 

Ins Steuerparadies, nicht ins Land
Nun gibt es ein wichtiges Moment, das wir schon erwähnt haben. Zwar haben die Gesamtimporte im Untersuchungszeitraum in Dollars um 388.9 % zugenommen, in Kilos aber bloss um 57.6 %.  Ähnlich bei den Agrarimporten: In Dollar sind sie um 575.7 % gestiegen, in Kilo um 151.5 %. Curcio folgert nach den diesbezüglichen Darstellungen: „Der Fakt, dass die in Dollar gemessenen Importe viel stärker zunahmen als in Kilo gemessen, entspricht zusammen mit der Zunahme der dem Importsektor übergebenen Devisen einerseits und dem Mangelindex andererseits den zunehmenden Depositen des Privatsektors im Ausland.“ Endlich macht ein Kurvenvergleich Sinn! Curcio: „Die Grafik 14 zeigt die Tendenz der Variabel „Gelder und Depositen des Privatsektors im Ausland“ von 1997 bis 2013. Man kann sehen, wie diese Gelder von 2003 bis 2013 um 232.8 % zugenommen haben.“ 

Ein beträchtlicher Teil der für wenige Bs. erworbenen Importdollar gingen also nicht in den Export, sondern in die Steuerparadiese.

Die politische Triebkraft
Dazu kommt das Horten der Güter des Alltagsbedarfs. Bei den Nahrungsmitteln betrifft das Horten vor allem die in Venezuela meistkonsumierten, die eine schöne Gemeinsamkeit aufweisen: Produktion und Vertrieb liegen in den Händen von Monopolen und Oligopolen.  Ein praktischer Umstand, der, mutmasst Curcio, Absprachen über Marktmanipulationen einfacher und billiger macht als mit einer Unzahl von ProduzentInnen und VerteilerInnen. Die Ökonomin erwähnt auch den oft kommentierten Umstand, dass gewisse Artikel im Detailhandel fehlen, nicht aber für die  industrielle oder kommerzielle Nutzung. (Sie erwähnt das harina pan, das in Venezuela unabdingliche Maismehl, produziert vom Monopolunternehmen Polar. Dessen Chef, Lorenzo Mendoza, ist ein eifriger WEF-Gänger und  intim mit dem im zitierten NZZ –Artikel genannten Ricardo Hausman liiert, mit dem er zum Zweck der erneuten Unterwerfung des Landes unter das IWF-Regime konspiriert. ) Die Abzweigung von Importdevisen, das Horten durch marktbeherrschende Akteure und der Schmuggel stellen für Curcio in dieser Reihenfolge die entscheidenden Faktoren der Unterversorgung dar. Sie schreibt weiter: „Auch wenn diese Faktoren der Profitmaximierung zu dienen scheinen, oder, schlimmer noch, im venezolanischen Fall der Aneignung  der Ölrente, implizieren sie ein primär politisches Interesse. Wir wagen diese Schlussfolgerung, wenn wir sehen, dass es in Momenten der politischen Spannung, der grossen Polarisierung und im Rahmen von Wahlen zu den Spitzen der Unterversorgung kommt. „

von l. n. r.: Unternehmerstreik; Abberufungsreferendum Chávez; Verfassungsreferendum; Regionalwahlen; Parlaments-, Regional- und Gemeindewahlen; Präsidentschaftswahlen 2012; Tod von Chávez und Festlegung Wahltermin auf den 14.4.13

Der ominöse Schwarzmarkt
Soviel zu den durch die „chavistische Misswirtschaft“ verursachten Warteschlangen im Land. Bleibt noch die Frage der Teuerung, des Wechselkurses und des Schwarzmarkts. Wie oben erwähnt, die Preise gelten als abhängig von der Gesamtnachfrage. Doch ersieht man aus der folgenden Grafik, dass sich der KonsumentInnenpreisindex regelwidrig weit mehr am Schwarzmarktkurs orientiert. Curcio: „Im Untersuchungszeitraum variiert die Inflation in Venezuela zu 73 % im Einklang mit dem Dollarkurs auf dem Parallelmarkt. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die Realökonomie. Besonders, wenn der Schwarzmarktkurs des Dollars nicht mit den anderen ökonomischen Faktoren korrespondiert und die Kriterien, die zur Bestimmung dieses Kurses führen, nicht transparent sind“. Denn den Wechselkurs einer nationalen Währung bestimmen die Devisenreserven  des Landes. Nicht so in Venezuela. Während die Reservekurve ziemlich flach  ist, mit leicht abnehmender Tendenz ab 2007, „zeigt der parallele Wechselkurs ab 2008 und dann 2012 ein beschleunigtes Wachstum“.


Liegt es vielleicht an den Importdevisen? Auch nicht. Der Schwarzmarkt sollte ein Mark „vollkommenem Wettbewerb“ sein, in dem also einzig das ungehindert spielende Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage den Kurs bestimmt. Doch auch in diesem Fall ergeben die Kurven von Wechselkurs und Importdevisen „keine bedeutsame Verbindung“. Weshalb der Verdacht naheliegt, dass der Wechselkurs nicht vom Markt bestimmt wird. In diesem Zusammenhang stellt Curcio eine interessante Frage nach der realen Grösse dieses famosen Schwarzmarkts, insbesondere, wer wieviele Dollars anbietet bzw. nachfragt. Erinnern wir uns: die Dollars kommen fast ausschliesslich vom Staat. Nehmen wir an, argumentiert die Forscherin, dass Unternehmen, die bei den Importdevisen nicht berücksichtigt wurden, auf dem Schwarzmarkt Dollars nachfragen. Aber wer stellt diese zur Verfügung? Wären es gar die Unternehmen, die Importdevisen erhalten haben? Vermutlich sei die Dollarmenge auf dem Schwarzmarkt im Vergleich zu der auf dem offiziellen Markt klein. Ein Schwarzmarktkurs, der infolge der grossen Mengen offizieller Devisen sinken müsste, wäre er einer Marktlogik verpflichtet, statt zu steigen. 

„Aufgrund der bisherigen Resultate“, schlussfolgert die Ökonomin, „können wir sagen, dass der Wert des Wechselkurs im Parallelmarkt, der täglich aktualisiert und auf einer Webpage publiziert wird, keine Beziehung mit dem Rest der ökonomischen Variablen aufweist. Ein Wert, der nicht nur die Transaktionen im Devisenparallelmarkt bestimmt, sondern auch zur Preisfestsetzung dient.“ (Mit der Webpage meint sie Dolar Today, s. dazu Correos 183, Wirtschaftskrieg gegen die kollektive Psyche.)

 Verhaltensökonomie für den Putsch
Soweit Pasqualino Curcio. Sie hat für den Untersuchungszeitraum die politische Manipulation von Unterversorgung, Teuerung und Schwarzmarktkurs nachgewiesen. Warum hat sie die Daten nur bis 2013 erfasst? Dieser Zeitraum macht sozusagen im Vergrösserungsglas klar, wie verlogen die rechten Herleitungen der Wirtschaftskrise sind. Eine andere Sache ist, dass die seit 2003 betrieben Wirtschaftssabotage jetzt definitiv Wirkung zeigt. Sie ist ein wichtiges Element in den erschreckenden Zahlen, die venezolanische Zentralbank vor wenigen Tagen veröffentlicht hat: 2015 schrumpfte das BIP um 5.7 % und die Inflation erreichte die schwindelerregende Höhe von 180.9 %. Natürlich spielt der internationale Erdölmarkt auch eine wichtige Rolle: Die venezolanischen Öleinnahmen tauchten in den letzten beiden Jahren bisher um 80 %. Das Ölrentenmodell gilt nun auch offziell als obsolet, die Frage ist, wie schnell es heute, in der Krise, gelingen kann, das „produktive Venezuela“ anzukurbeln, also weg von der Ölabhängigkeit zu kommen, welche eine Reihe von Ankündigungen und Massnahmen der Regierung in den letzten Wochen  betonen. So wichtig der Ölfaktor ist, ohne den Wirtschaftskrieg wären die Spielräume ganz andere.

Zwei Bemerkungen noch.  Curcio hat die dritte geläufige Erklärung für das Zustandekommen einer Mangelversorgung ein paar Mal in ihrem Papier erwähnt, die Erwartungshaltung der Leute. Gegen mögliche Knappheit reagiert das ganze Land mit Horten in kleinem Stil, das die oligopolistische Marktzutrittsperre noch verstärkt und von dieser wiederum bestätigt wird. Das Gleiche gilt für galoppierende Preise etc. Die Erfahrungen in Venezuela haben etwas mit jenem neueren Zweig der Wirtschaftslehre zu tun, der wirtschaftliche Prozesse aus dem Verhalten der Leute zu erklären suchte und immer mehr darauf aspiriert, dieses Verhalten zu lenken (die Verhaltensökonomie). Wissenschaft als Angstmaschinerie.

Und zweitens: Es ist wichtig, aber schon gar nicht mehr ausreichend, die Methoden eines unkonventionellen Kriegs auf der wirtschaftlichen Ebene zu kennen. Einzelne Vorkommnisse der letzten Tage lassen eine gewisse Hoffnung aufkommen, dass die chavistische Regierung zu handeln beginnt (viele Verhaftung auch höchster FunktionärInnen im Bereich der korrumpierten, staatlich subventionierten Nahrungsmittelversorgung. Ob solche Initiativen sich wirklich entwickeln und ob die Zeit dafür reicht, ist vom Schiff aus sicher nicht zu beurteilen. Die transnationale Rechte will offenbar den Sturz der Regierung in kurzer Zeit erreichen; nicht zufällig sprach gestern der momentane Spitzenexponent der Reaktion, Parlamentspräsident Ramos Allup, von umsturzwilligen Armeetruppen, nicht zufällig hat Washington nach diversen Informationen eine Grosskampagne zur Abwerbung von Mitgliedern der Sicherheitskräfte gestartet.