Dienstag, 19. August 2008

Hintergrundpapier zu El Salvador, Sommer 2008

EL SALVADOR

WAHLBEOBACHTUNGS-DELEGATION 2009

Grundlagendokument

Dieses erste Info-Dokument will allen, die sich für die Wahlbeobachtung 2009 in El Salvador interessieren, einen Überblick über das Land geben. Vier Punkte werden beleuchtet: die Friedensabkommen von 1992 und ihre (Nicht-) Umsetzung, die sozioökonomische Nachkriegsentwicklung, die Wahlgeschichte ab 1992 und die aktuellen Perspektiven für die kommenden Wahlen 2009 sowie bekannte Mechanismen des Wahlbetrugs.

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1932 kam es in El Salvador zu einem der schlimmsten Massaker an Indígenas in der ganzen Geschichte des Kontinents. Etwa 30'000 Menschen wurden innert weniger Tage im Westen des Landes von der Armee ermordet - Antwort auf einen Aufstand für Land, der auch von der jungen Kommunistischen Partei unter Führung von Farabundo Martí unterstützt worden war. Jahrzehnte einer fast ununterbrochenen Militärdiktatur folgten. In den 70er Jahren entstanden fünf linke Guerillagruppen, als Antwort auf Wahlbetrug und Repression. Zu Beginn des 1980 offen ausbrechenden Krieges schlossen sie sich zur Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí, FMLN, zusammen. Die US-Administration war nicht gewillt, ein zweites Nicaragua hinzunehmen, US-Präsident Ronald Reagan wollte in El Salvador „to draw the line“. Die US-Militärhilfe stieg bis zu $700 Millionen im Jahr, was das winzige Land (21'000 km2) zum drittgrössten Empfänger der US-Aufrüstung machte. Offiziell sind bis zum Friedensabkommen etwa 75'000 Menschen dem Krieg und der Repression zum Opfer gefallen. Dennoch hatte sich der FMLN zur damals stärksten Guerillabewegung des Kontinentes entwickelt. Schon früh hatte die franko-mexikanische Anerkennung des FMLN als kriegsführende Partei die Türen für eine Verhandlungslösung geöffnet, doch die US-Administration von Reagan/Bush und die salvadorianische Diktatur sperrten sich systematisch dagegen. Es brauchte die grosse Guerilla-Offensive vom November 1989 mitten in der Hauptstadt, um die Einsicht reifen zu lassen, dass ein militärischer Sieg über die Guerilla praktisch unmöglich war. Nach zwei Jahren kam es unter Ägide der UNO anfangs 1992 zu einem Friedensabkommen.

I. Zur Umsetzung der Friedensabkommen von 1992

Das von der UNO zum Modell für Friedenslösungen in Bürgerkriegssituationen erklärte Abkommen sah im Kern die schrittweise Entwaffnung der Guerilla und ihre Umwandlung in eine politische Partei im Gegenzug zu einer Reihe von Reformen vor. Diese beinhalteten insbesondere folgende Punkte:

- drastische Restrukturierung und Verkleinerung der Streitkräfte und Beendigung ihrer Zuständigkeit für die Innere Sicherheit

- Schaffung einer neuen Zivilen Nationalpolizei (PNC, Policía Nacional Civil), paritätisch aus Beständen der Guerilla, der alten Polizei und von unabhängigen ZivilistInnen gebildet

- politische Reformen (Menschenrechtsombudsstelle, Wahlreformen, Organisationsfreiheit etc.)

- Ansätze zu einer Landreform und Schaffung eines tripartiten Konzertationsforums (Regierung, Unternehmer und Gewerkschaften) zwecks Abstimmung der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Die UNO hat die Umsetzung der Friedensabkommen längst als im Wesentlichen abgeschlossen bezeichnet. Doch diese Bewertung entspringt politischen Interessen, nicht der Realität. Grundsätzlich ist nur die Guerilla mit ihrer binnen eines Jahres definitiv vollzogenen Demobilisierung ihren Verpflichtungen aus den Friedensabkommen nachgekommen. Nicht so die Regierung, die bis heute einzig die im engeren Sinne politischen Reformen einigermassen abkommensgerecht umgesetzt hat. Dazu gehören die Reformen der Verfassung, des Wahlrechts, des Strafgesetzes, die Schaffung der staatlichen, aber regierungsunabhängigen Ombudsstelle für Menschenrechte (Procuraduría para la Defensa de los Derechos Humanos, PPDH) und natürlich die Legalisierung des FMLN als politische Partei. Konkret bewirkten all diese Veränderungen eine Verringerung des politischen Autoritarismus, des generellen Angstklimas, eine Zunahme der Inanspruchnahme der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit.

Remilitarisierung, „soziale Säuberung“, Politmorde

Die Armee wurde auf 30'000 Mann halbiert. Ihre berüchtigten, von den USA ausgebildeten Eliteeinheiten und das paramilitärische Spitzelwesen wurden offiziell vollständig aufgelöst. Aufgrund der Berichte der im Friedensvertrag vorgesehenen Wahrheitskommission und der mit der Untersuchung von Menschenrechtsverbrechen durch führende Armeekader beauftragten Ad-Hoc-Kommision musste die bisherige Militärführung Mitte 1993 zurücktreten. Allerdings rückten Feldoffiziere nach, die ebenfalls in die Greueltaten der Streitkräfte involviert waren. Die 1993 veröffentlichten Ergebnisse der Wahrheitskommission waren für Armee- und Politführung des Landes niederschmetternd. Ein darauffolgendes totales Amnestiegesetz „neutralisierte“ die Schlussfolgerungen dieses Berichtes. Dieses ist bis heute in Kraft.

Eine neue, „professionelle“ Militärdoktrin sollte die Wiederholung der Verbrechen unmöglich machen; insbesondere würde die Armee nicht mehr mit der Wahrung der „inneren Sicherheit“ befasst sein. Doch schon 1993 rekurrierte der damalige Staatspräsident Alfredo Cristiani auf einen Notstandsparagraphen und setzte die Armee „befristet“ zum Schutz der Kaffeeernte gegen Raubüberfälle ein. Trotz Friedensabkommen gehören Aufgaben dieser Art längst zum Alltag der Streitkräfte.

Die militarisierten und total diskreditierten Polizeikräfte wurden aufgelöst und durch eine neue Zivile Nationalpolizei (Policia Nacional Civil, PNC) ersetzt. Faktisch blieb die oberste Führung in den gleichen Händen. Der zu Beginn hoffnungsvolle Aufbau der PNC ist gescheitert: die Polizei ist weiterhin ein Repressionsinstrument im Interesse der Regierungselite. Seit Jahren belegen Untersuchungen der Ombudsstelle für Menschenrechte oder der Menschenrechtsorganisation Tutela Legal der Erzdiözese die systematische Verwicklung von PNC-Strukturen in Todesschwadronen der ‚sozialen Säuberung’. Opfer: SexarbeiterInnen, Homosexuelle, Strassenkinder, reale oder angebliche Mitglieder der Strassengangs (Maras). Kurz nach Kriegsende kam es nach der Ermordung mehrerer FMLN-Kadern und unter internationalem Druck zur Untersuchung von ‚kriminellen Todesschwadronen mit politischer Zielsetzung’ durch den sogenannten Grupo Conjunto, dessen bemerkenswerte Ergebnisse aber in der Folge ignoriert wurden.

Der bekannte Anwalt David Morales von der Menschenrechtsorganisation FESPAD betonte nach der mutmasslich politisch inspirierten Ermordung eines studentischen FMLN-Aktivisten am 26. Juni 2008 und der Ermordung eines Angestellten der FMLN-Gemeindeverwaltung in der Vorortsstadt Ilopango und seines Sohnes am 3. Juli 2008, „dass in diesem Land ein Muster der Ermordung von politischen Oppositionellen und sozial-kommunalen AktivistInnen“ unter dem Deckmantel der Strassenkriminalität existiert. „Die Jahresberichte der Tutela Legal von der Erzdiözese zeigen uns, dass diese Tendenz der politischen Gewalt nach dem bewaffneten Konflikt nie verschwunden ist, dass sich solche Verbrechen Jahr für Jahr wiederholen, zusammen mit einem anderen Typus von Verbrechen, der mit dem Wahn der sozialen Säuberung zu tun hat“.

Im Juli letzten Jahres wurden in Polizeihelikoptern abtransportierte gefangene DemonstrantInnen gegen die Wasserprivatisierung damit bedroht, während des Fluges aus den offenen Türen herausgeworfen zu werden. Die 14 Gefangenen, darunter Mitglieder einer bekannten Basis-NGO und einer Gemeinderegierung des FMLN, wurden von der Regierung unter einem drakonischen, gerade erst auf Drängen der US-Botschaft verabschiedeten ‚Anti-Terrorismusgesetzes’ angeklagt. Dies für die Teilnahme an einer Demo wohlverstanden, deren militantester Ausdruck in einer friedlichen Strassensperre bestand. Grossmobilisierungen und internationaler Druck erreichten nach einigen Wochen erst die Freilassung der Gefangenen und ein halbes Jahr später die Einstellung der völlig überrissenen Anklage. Bis zu 65 Jahre Gefängnis für Teilnahme an einer Demo für das Recht auf Wasser – das schien dann doch etwas gar wenig mit der Bekämpfung von Al Kaida zu tun zu haben. Doch die Entwicklung in diesem Fall führte zur Verabschiedung von weiteren StGB-Reformen, welche das Sonderrecht gegen die Organisierte Kriminalität (gemeint sind faktisch die Strassenbanden) ins normale Recht übernehmen und damit praktisch die letzten nach Kriegsende durchgeführten Reformen auf diesem Gebiet rückgängig machen.

Zusammenfassend muss man sagen, dass vielleicht nur die Jahre 92-93 eine Ahnung davon vermitteln konnten, was eine an Respekt der Menschenrechte orientierte Politik in einem Land wie in El Salvador bedeuten könnte. Die Armee war von der Strasse verschwunden, die Polizeikräfte betont rechtsstaatlich, ohne die sonst übliche Arroganz der Macht – ein flüchtiger Duft von Freiheit. Zu betonen ist die Rolle der USA im Bereich der neuen Sicherheitskräfte. Die in den Abkommen vorgesehene Entmilitarisierung unterlief das Pentagon ab 1993 mit seinen zusammen mit der salvadorianischen Armee durchgeführten „Manövern“, die angeblich der „medizinischen Versorgung“ der Landbevölkerung oder dem Schulbau dienen sollten. Von Anfang penetrierte so die „neue“ Armee das soziale Territorium. Die „humanitären“ Zielsetzungen sind längst ausgeweitet auf Berreiche wie Strassenbanden, Drogenhandel oder Migration. Heute gehören Armeepatrouillen, begleitet von einem Mitglied der Polizei, zum Standardinstrumentarium im sogenannten Krieg gegen die Maras (Strassenbanden). Was die Polizei betrifft, so kam die damalige UNO-Mission Onusal mehrmals in Clinch mit den USA. Denn die US-Polizeibehörden FBI und DEA hatten versucht, besonders berüchtigte Spezialeinheiten der alten Polizeikräfte in corpore in die PNC überzuführen.

II. Die sozioökonomische Nachkriegsentwicklung:

„Globalisierung“ und Zerstörung

Die Regierung ignorierte die ohnehin beschränkten sozioökonomischen Teilabkommen der Friedensverträge. Nur einige direkt mit der Eingliederung der ehemaligen Guerillas ins Zivilleben zusammenhängende Massnahmen wurden umgesetzt. Das „Konzertierungsforum“ (tripartiter Sozialdialog) blieb eben so toter Buchstabe wie der Ansatz für eine allgemeine Landreform. Das Kriegsende ermöglichte den aus der Agrarbourgeoisie heraus entstandenen Finanz- und Handelskapitalgruppen, mit neuem Elan an die Umsetzung einer Politik à la Washington Consensus zu gehen.

Privatisierung

Kaum schwiegen die Waffen, ging es an die von IWF und Weltbank gesponserte Privatisierung der Finanzinstitute. Die während des Krieges „verstaatlichten“ Banken hatten den Eliten Grosskredite gegeben, welche diese routinemässig nicht zurückzahlten. Die Banken gerieten in eine Krise. Solcher „staatlichen Misswirtschaft“ sollte nun die Privatisierung beikommen, dergestalt nämlich, dass der Staat einigen der besagten Grosskreditnehmern neue Kredite zur Verfügung stellte, und zwar für den Erwerb der Banken. Gleichzeitig „erwarb“ er die ausstehenden Kredite, schrieb sie ab und zahlte dafür den neuen Privateigentümern (und alten Schuldnern) der Banken einen Zinssatz, der beträchtlich über jenem lag, den diese dem Staat für ihre Kredite für den Erwerb der Banken bezahlen mussten. Anders gesagt, die neuen Eigentümer – wie der damalige Staatspräsident Cristiani – zahlten real nicht einen Centavo für den Erwerb der Banken. Dieses Geschäftsmodell zeitigte nachhaltige Auswirkungen auf die Kreditpolitik der Banken: Produktive Kredite wurden jährlich spärlicher, insbesondere für die Landwirtschaft und die KMU, dafür wuchsen die Volumina von Konsum- und Importkrediten explosiv an. In den letzten 20 Jahren ging laut Angaben des AgrarproduzentInnenzusammenschlusses „Coordinadora Nacional Agropecuaria“ die Maisanbaufläche auf die Hälfte zurück.

Weitere lukrative Staatbereiche wie die Telekom, die Stromwirtschaft oder das Rentensystem wurden in den 90er Jahren privatisiert, bei vorgängiger Zerschlagung der jeweiligen Gewerkschaft. In einer zweiten Generation von Privatisierungen stehen Gesundheitssystem, Wasser, Erziehungswesen und Hafeninfrastruktur an – wobei es auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung zweimal zu anhaltenden Grossmobilisierungen gekommen ist, welche die entsprechenden Intentionen blockiert haben. Auch ein neues Wasser- (Privatisierungs-) Gesetz konnte bisher noch nicht durchgedrückt werden. Im Rahmen eines regionalen Erschliessungsplanes von Kolumbien bis Mexiko wurden ursprünglich als Wiederaufbauhilfe nach dem Wirbelsturm Mitch von 1998 gepriesene Massnahmen wie eine weitgehend private mesoamerikanische Stromgeneration (für den Export) oder handelsinfrastrukturelle Grossprojekte (Häfen, regionale Verbindungsstrassen) gefördert – auf Kosten einer lokal orientierten Wirtschaft.

Dollarisierung

Anfangs 2001 trat die ohne jegliche Diskussion von der rechten Parlamentsmehrheit durch gewunkene Dollarisierung in Kraft. Das Land vergab sich damit die Möglichkeit einer halbwegs souveränen Entwicklung und ist seither auf die US-Notenbank angewiesen, welche ihre Entscheide ohne Rücksicht auf salvadorianische Befindlichkeiten zu nehmen pflegt. Insbesondere ist El Salvador seither „externen Schocks“ wie der aktuellen Ölpreisspirale schutzlos ausgeliefert. Das Dollarisierungsgesetz erlaubte es den Banken weiter, ihre Mindestreserveeinlagen neu nicht mehr bei der „Zentralbank“, sondern direkt im Ausland anzulegen und sie können seit 2004 dank eines weiteren Dekretcoups 150% des Eigenkapitals offshore platzieren. Seit einigen Monaten ist nun auch noch, mitten in der Subprime-Krise, eine Bestimmung in Kraft, die es den jetzt ausländischen Instituten wie der Citigroup oder HSCB gehörenden Banken erlaubt, ihre Kredite poolmässig zu verbriefen…

Die Dollarisierung sollte offiziell die Kreditzinsen von rund 20 % auf ein international übliches Mass drücken. Real liegen die salvadorianischen Zinssätze nach wie vor weit über dem US-Niveau, was zur erwähnten Finanzabwürgung der Realökonomie beiträgt. Die höheren Zinsen haben natürlich mit der tiefere salvadorianischen Produktivität und damit auch Zahlungsfähigkeit der Schuldner zu tun. Die Dollarisierung bedeutet die totale Abhängigkeit des Landes vom Influx von US-Dollars und verteuert die salvadorianischen Exporte. Das Handelsdefizit vergrössert sich jährlich. In den ersten vier Monaten dieses Jahres stieg es um 20.5% auf $1.689 Milliarden im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum, bei Exporten von $1.5 Milliarden und Importen von 3.2 Milliarden (El Diario de Hoy, 28.5.08).

Verschuldung

Um die wachsende Handelsschere zu finanzieren, verschuldet die Regierung das Land stetig mehr. Die staatliche Nettoverschuldung betrug letztes Jahr laut Zentralbank BCR $8.638 Milliarden (2005: $7.7 Milliarden). Das BIP 2007 betrug im Vergleich $20 Milliarden. Der letztjährige Schuldendienst lag bei fast $800 Millionen, beinahe soviel wie die Ausgaben für Erziehung und Gesundheit zusammen. Im laufenden Jahr wird er $1.2 Milliarden ausmachen, bei einem angestrebten Budget von $3.3 Milliarden, und 2011 sogar $2 Milliarden! Tatsächlich liegt die Staatsverschuldung noch einiges höher: Die Regierung gliedert etwa den sogenannten Rententreuhandfonds einfach aus ihrer Rechnung aus. Bis zu seiner Privatisierung funktionierte das ohnehin nur für die einen formellen Arbeitsplatz aufweisenden Arbeitskräfte konzipierte Rentensystem auf Umlagebasis. Die Zwangsübertritte der jüngeren Jahrgänge in die privaten Pensionskassen hebelten die bisherige Finanzbasis für die Bezahlung der Rentenansprüche aus; diese Aufgabe wurde nun ins ordentliche Budgget integriert, schlägt da aber jährlich massiv wachsende Löcher, die mit Neuverschuldung gedeckt werden. Um damit verbundenen parlamentarischen Kontrollen durch die Opposition zu entgehen, schuf die Regierung letztes Jahr einen Treuhandfonds, der aus der Staatsrechnung ausgelagert ist und über Zwangsanleihen bei den Pensionskassen finanziert wird.. Dies hebelt die Verfassung aus, die für Verschuldung ein qualifiziertes Mehr im Parlament vorschreibt, die ohne FMLN nicht zu haben ist. Ähnliche aus der Staatsrechnung herausgemogelte „Treuhandfonds“ hat die Regierung letztes Jahr auch für Projekte im Sicherheitsbereich und im Erziehungswesen ins Leben gerufen.

Freihandel

Zwei Dynamiken treiben diese „missliche“ Lage voran: die „Globalisierung“ und eine extrem ungleiche Reichtumsverteilung. 1995 trat El Salvador der WTO bei. Damals noch mit den Stimmen der FMLN-Fraktion, die wähnte, internationale Transparenzstandards würden der grassierenden Korruption der nationalen Eliten Einhalt bieten. Natürlich ist der FMLN längst eines Besseren belehrt, die Episode zeigt aber, mit welch enormen Schwierigkeiten der Übergang von einer Guerilla zu einer politischen Partei verbunden ist. Die damit begonnene Politik der Privatisierungen, Handelsliberalisierungen, Zollreduktionen und ähnliches wurde mit dem Freihandelsvertrag zwischen den USA und den zentralamerikanischen Ländern, CAFTA, nochmals massiv verschärft. In El Salvador ist CAFTA seit dem 1. März 2006 in Kraft. Seither ist der Export industrieller Güter ist zurückgegangen und hat sich nicht diversifiziert. Der Export landwirtschaftlicher. Produkte ist gestiegen, stützt sich jedoch weiterhin auf die traditionellen Produkte Kaffee, Zucker, Fisch und Meeresfrüchte. Neu ist die Produktion von Früchten für den Export (USA und EU): Mango, Ananas, Melonen u.a.. Alle diese Bereiche sind kapitalintensiv und deshalb nur für Grossgrundbesitzer und Grosskapitalisten eine Option. Die Importe aus den USA betreffen v.a. die Bereiche der salvadorianischen mittleren und Kleinunternehmen und sie sind 16 -25% gestiegen; Mais, Reis, einzelne Fleischsorten und Milchprodukte. Trotz Anstieg der subventionierten US-Importen sind die Preise für Grundnahrungsmittel und Agrarproduktion nicht gesunken; ihre Teuerung fällt sogar höher als die offizielle Landesinflation (4.9%) aus. Der durchschnittliche Preisanstieg beträgt bei den Grundnahrungsmitteln 28.9%, bei den landwirtschaftlichen Produktionsmitteln 25,6% (2007)!

Reformen wären finanzierbar

Noch krasser sieht es bei der Steuerpolitik aus, die extrem regressiv ausgerichtet ist. 68% der Steuereinnahmen stammen aus der Mehrwerststeuer (IVA), 16% aus der Lohnsteuer und die restlichen 16% aus der Gewinnsteuer für Unternehmen. Die Gewinne der Unternehmen betrugen im ersten Quartal 2007 nach Angaben der Zentralbank BCR über 60% des BIP!!! Die salvadorianische Fiskalquote liegt bei 13.8% (Angaben für 2006), der gewichtete lateinamerikanische Durchschnitt bei 20%. Die ARENA-Regierungen lehnen eine Steuererhöhung insbesondere bei Kapitalgruppen und Reichen strikt ab und greifen notfalls zum Mittel „versteckter“ Steuern. So beschloss die Regierung letzten Juni die Erhebung von 4 US-Cents auf jedem Anruf aus oder nach El Salvador, angeblich zwecks Finanzierung von Buspreissubventionierungen. Eine $80-Millionen-Massnahme, die vor allem die Emigrierten und ihre Familien trifft. Doch nur schon bei Einhaltung der geltenden Steuergesetze sähe die Fiskalsituation anders aus. Finanzminister William Hándal ging im März 2006 von $600 Millionen aus, welche die Unternehmen an Mehrwertsteuern (IVA) einziehen, aber nicht an den Staat weiterleiten. Im Oktober 2006 gab der damalige US-Botschafter Douglas Barclay eine Untersuchung bekannt, wonach 40% des IVA, 59% der Unternehmenssteuern und schicke 64% bei anderen Einnahmen wie Zöllen hinterzogen würden. Allein beim IVA machte das für 2006 $833 Millionen aus, mehr als die gesamte Neuverschuldung dieses Jahres. Das ist enorm wichtig im Hinblick auf die Finanzierbarkeit von Sozialreformen, die der FMLN als Regierungspartei umsetzen will.

Migration, Überleben, cambio

Insgesamt haben wir das Bild einer systematischen Zerstörung dessen, was nationale Wirtschaft genannt werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage des US-Botschafters Douglas Barclay zu situieren: „Wir dachten, dass täglich 740 Personen aus El Salvador in die USA migrieren. Von diesen werden ungefähr 40 an der Grenze zu Texas festgenommen und nachhause geschickt. Aber wir wissen nicht, wo die anderen sind“ (El Faro, 2.7.07). Mittlerweile geht die US-Botschaft wieder von etwas tieferen Zahlen aus, von etwa 500 pro Tag. Einer neuen Volkszählung zufolge leben in El Salvador 5.7 Millionen Menschen. Das salvadorianische Aussenministerium gab im November 2007 die Anzahl ausgewanderter SalvadorianerInnen weltweit mit 2.2 Millionen an, zuvor hatte es mit der Zahl von 2.9 Millionen operiert (El Diario de Hoy, 10.11.07). 2005 rechnete das Ministerium auf seiner Homepage mit 3.2 Millionen Emigrierten, 2.8 Millionen davon in den USA. 2007 nun reduzierte das Ministerium die Zahl der SalvadorianerInnen in den USA auf 1.8 Millionen. (Die Neueinschätzung wird mit Verweis auf die US-Volkszählung von 2000 und neue statistische Erhebungsmodelle begründet.) So oder so stellen die Rimessen (Heimüberweisungen der Emigrierten) seit den 90er Jahren die jährlich wachsende Haupteinnahmequelle an Devisen dar, vor allen Güterexporten. Laut BCR betrugen die Rimessen letztes Jahr über $3.6 Milliarden. Für die die ersten fünf Monate dieses Jahres sollen sie gegenüber dem Vorjahr um 6% gewachsen sein (El Diario de Hoy, 13.6.08), deutlich unter den zweistelligen Zuwachsraten bis und mit 2006. Das hat mit der zunehmenden Staatshetze auf MigrantInnen in den USA, der brutalen Situation an den Grenzen mit den USA, vor allem aber auch von Guatemala und Mexiko, und natürlich mit der Wirtschaftskrise in den USA zu tun, denn etwa ein Viertel aller salvadorianischer Migranten war auf dem Bau beschäftigt. Dass der BCR für dieses Jahr praktisch mit der gleichen Zuwachsrate wie für das Jahr 2007 aufwartet, überrascht. Mexiko meldet sinkende Rimessen und in El Salvador trifft man vermehrt die Haltung an, dass Emigration keine praktische Lösung mehr darstelle. Das ist enorm dramatisch: Je nach Quelle hängen 25% bis 70% aller Haushalte für die Deckung der Grundbedürfnisse von den Überweisungen ihrer Angehörigen ab. Der erhoffte cambio, die Besserung der Lebensbedingungen, nicht mehr automatisch mit Emigration assoziiert, gerät zwangsläufig die Veränderung der Bedingungen im Land ins Blickfeld.

III. Wahlen in El Salvador

Wahlen für Gemeinderegierungen, Parlament und zentralamerikanisches Parlament finden alle 3 Jahre, Präsidentschaftswahlen alle 5 Jahre statt. Für einen Sieg in den Präsidentschaftswahlen im ersten Durchgang bedarf es 50% plus einer Stimme, in der zweiten Runde zwischen den beiden Bestplatzierten reicht das einfache Mehr. Seit Kriegsende ist es nur bei den Wahlen 1994 zu einer zweiten Runde gekommen, als ARENA im ersten Durchgang knapp die 50%+1-Limite verpasste. Die Wahlhäufigkeit führt dazu, dass praktisch permanent Energien in Wahlbelange gesteckt werden.

Es herrscht ein ausgeprägter Präsidentialismus, erleichtert durch die bisherigen rechten Mehrheiten im Einkammer-Parlament mit 84 Abgeordneten. Es existieren 262 Gemeinden im Land, keine mit einem Gemeindeparlament. Die siegreiche Partei oder Koalition stellt die Gemeinderegierung allein. Das reformierte Wahlgesetz sieht vor, dass das mit der Durchführung der Wahlen und der Auszählung der Resultate befasste Oberste Wahltribunal (Tribunal Supremo Electoral, TSE) aus je einer/einem VertreterIn der drei bestplatzierten Parteien und zwei vom Obersten Gericht delegierten MagistratInnen bestehe, welche alle vom Parlament für eine 5-Jahresdauer gewählt werden. Es gibt also keine sogenannt unparteiische Wahlinstanz. Auf Departementsebene existieren die Juntas Electorales Departamentales (JED), welche bis zu einer Konterreform vom letzten Jahr aus VertreterInnen der vier stärksten Parteien und einem fünften, per Los aus dem Kreis der restlichen Parteien zu bestimmenden, Mitglied bestanden. Dito auf Gemeindebene (Junta Electoral Municipal, JEM). Die Wahlzentren sind bis auf ein paar Ausnahmen nur in den Gemeindehauptorten eingerichtet, was insbesondere auf dem Land vielen die Teilnahme erschwert. Im Gegensatz zum TSE sind die JED und JEM keine permanenten Körperschaften, genau so wenig wie die Wahltischbehörden (Juntas Receptoras deVotos, JRV, oder Stimmenempfangskomitees). Die fünfköpfigen JRV werden nach dem Schlüssel bestimmt, der bisher auch für die JED und JEM gegolten hat. Jede teilnehmende Partei hat überdies das Recht, eine/n VertreterIn pro Urne zu delegieren, die sogenannten fiscales, um die Rechtmässigkeit der Vorgänge am Wahltag zu überwachen.

Wahlgeschichte…

Bei den ersten Wahlen nach dem Friedensabkommen im März 1994 wurde der FMLN führende Oppositionskraft, allerdings weit hinter ARENA. Aus der Tabelle der Resultate für Parlaments- und Präsidentschaftswahlen seit 1994 (siehe unten) ist ersichtlich, wie sich das Land elektoral seither polarisiert und der FMLN auf Parlamentsebene mit ARENA gleichgezogen hat, aber nicht so bei den Präsidentschaftswahlen. Auch parlamentarisch ist damit noch kein Patt zwischen links und rechts erreicht worden, da sowohl die Christdemokratie (Partido Democráta Cristiano, PDC) wie die nationale Versöhnungspartei (Partido de Conciliación Nacional, PCN) klar zur Rechten zu zählen sind und die Partei CD (Cambio Democrático, zwischenzeitlich auch CDU genannt) mal nach links, mal nach rechts laviert. Auf Gemeindebene regiert der FMLN insbesondere die bevölkerungsreiche metropolitane Region, musste aber landesweit nach einem grossen Aufschwung 1997 und 2000 bei den folgenden zwei Wahlgängen einen markanten Rückschritt verbuchen. Heute leben 40 Prozent der Bevölkerung in vom FMLN regierten Gemeinden.

Und etwas Interpretation

Nun gilt es allerdings auch, die Resultate zu interpretieren. ARENA konnte ihre Stimmenzahl bei den Präsidentschaftswahlen 2004 gegenüber den Parlamentswahlen 2003 fast verdreifachen, während der FMLN „bloss“ um 70% zulegte. Doch der Schein trügt. Der FMLN war mit seinem seither verstorbenen, historischen Führer Schafik Handal angetreten, dem Hassobjekt # 1 für die Rechten und die grossen Medien. Der enorme Stimmenzuwachs, das Optimum des selbstgesetzten Ziels, war trotz permanenter Hetzkampagne in den Medien zustande gekommen, Ergebnis von Basiskampagnen und Organisierung. ARENA ihrerseits mobilisierte die Ängste aller Rimessenabhängigen und Emigrierten: Bei einem FMLN-Wahlsieg würde George Bush sofort zu Massendeportationen der SalvadorianerInnen schreiten. Wichtige Mitglieder des US-Kongresses und Otto Reich, im State Department für Lateinamerika zuständig, wiederholten diese Botschaft. ARENA hat heute aber das Problem, dass die Deportationen steil angestiegen sind.

Ein weiteres Beispiel. Bei den Wahlen 2006 behielt der FMLN die Hauptstadt nur extrem knapp, mit 44 Stimmen Vorsprung. Dies aber erst, nachdem Tausende von Militanten des FMLN während dreier Tage und Nächte den grössten Platz der Hauptstadt besetzt gehalten und eine Demonstration vor den Sitz des TSE durchgeführt hatten, an deren Rand es zu Schüssen auf DemonstrantInnen gekommen war. Das TSE hatte zuvor die eigenen bindenden Normen verletzt und sich geweigert, den FMLN-Sieg zu deklarieren. Das Wichtige war dann, dass viele Leute wirklich genug hatten von den ewigen Betrügereien und entschlossen waren, diese nicht mehr hinzunehmen. Ohne die Strasse hätte es die Anerkennung dieses Wahlsieges nicht gegeben.

Perspektiven für die Wahlen 2009

Seit November 2007 ist es offiziell: Der FMLN tritt mit Mauricio Funes für die Präsidentschaft und Salvador Sánchez Cerén (Leonel González) für die Vizepräsidentschaft an. Die Kandidaturen wurden offiziell im grössten Sportstadium des Landes bekannt gegegeben, das sich als viel zu klein für die vermutlich etwa 80'000 Menschen erwies, die an dieser Demonstration teilnahmen. 80'000 an einer Kandidatenproklamation – dahinter steckt ein gesellschaftliches Phänomen, das den Rechten in die Knochen fuhr.

Mauricio Funes war ein landesweit bekannter und sehr populärer Journalist, kein Mitglied des FMLN. Er hatte sich einen Namen als Kritiker der grassierenden Korruption gemacht. Politisch scheint er „gemässigt links“ zu stehen. Funes sucht den engen Kontakt mit der europäischen Sozialdemokratie und der brasilianischen Regierungspartei. Sánchez Cerén ist unter dem Namen Leonel González bekannt als einer der wichtigsten historischen FMLN-Comandantes. Dennoch liegt das Gravitationszentrum in der ‚fórmula’ (das Kandidatenduo) eindeutig bei Funes. Seit ihrer Proklamation führt der FMLN in praktisch allen Umfragen. In den letzten Monaten beträgt der Vorsprung zwischen rund 5 und 21 Punkten. Das erklärt sich unter anderem so:

  1. Seit langem drücken die Lebenshaltungskosten, was schon bisher für grosses Murren und Protestaktionen gesorgt hat. Doch seit letztem Jahr verschlimmern die Öl- und Nahrungsmittelpreise die Situation. Laut Aussage des WFP-Vertreters im Land vom letzten Mai hat die Bevölkerung 56 Prozent ihrer Kaufkraft für Nahrungsmittel eingebüsst (Notimex, 28.5.08).
  2. Die Umfragen weisen diese Problematik als prioritär aus. Die schon lange surreal anmutende Rosafärberei der Regierung hat darauf keine Antwort, einen sozialen Wechsel versprechen sich die Leute am ehesten vom Frente.
  3. Das Bedürfnis nach einem Wechsel ist nicht neu. Seit Jahren thematisieren es die Umfragen; paradoxerweise gewann jedoch stets ARENA die Präsidentschaftswahlen. Natürlich spielte der Wahlbetrug im engeren Sinne dabei eine Rolle, aber keine ausschlaggebende (im Gegensatz zu manchen Gemeinde- und wohl auch einigen Abgeordnetenwahlen). Wichtiger war: Regierungen und Medien hatten es geschafft, die Frage der Kriminalität über ihre reale, gravierende Dimension hinaus als fast apokalyptische Bedrohung aufzubauen, gegen welche die „harte Hand“ von ARENA besseren Schutz gewähren zu schien als die „permissive“ Position des FMLN. Zur Zeit scheint die Manipulation von Regierung und Medien an Macht einzubüssen, obwohl die Sicherheitslage sich nicht gebessert hat.
  4. Solange der FMLN in die „radikale“ Ecke, möglichst nahe an Al Qaida, Strassenbanden und Drogenhandel, gestellt werden konnte, schien der Wunsch nach einer Veränderung keine Realisierungschance gehabt zu haben. Die Kombination des „gemässigten“ Mauricio Funes als Präsident mit dem FMLN als Sozialgaranten scheint hingegen die Hoffnung auf einen Wechsel zu beflügeln.
  5. Umgekehrt hat der Machtclan in ARENA um Präsident Saca und Sicherheitsminister René Figueroa mit der Portierung des langjährigen Polizeichefs Rodrigo Ávila als Präsidentschaftskandidat einen schlechten Zug getan. Der Mann steht einfach nicht für den cambio, den die ARENA-Strategen nicht müde werden zu predigen. Die Machthabenden haben die Brisanz der sozialen Frage registriert und befleissigen sich seit einiger Zeit einer geradezu „sozialdemokratischen“ Rhetorik. Doch Ávila steht für ‚same old story’ und zudem für das Scheitern der repressiven Sicherheitsdoktrin der letzten beiden ARENA-Regierungen.

Nun wissen die FMLN-Kader, dass auch Manuel López Obrador in Mexiko lange Zeit mit vergleichbar grossen Umfragewerten führte, die dann in relativ kurzer Zeit auf einen kleinen Vorsprung am Wahltag selbst zusammenschmolzen. Der „Ameisenbetrug“ – pro Urne eine bis zwei Falschstimmen für den offiziellen Wahlsieger der Rechten - reichten aus, um López Obrador zum Verlierer zu erklären. Die vom FMLN selbst in Auftrag gegebenen und nicht veröffentlichten Umfragen bestätigen das Bild eines signifikanten Frente-Vorsprungs, was aber die Verantwortlichen für die Kampagnen für die Alcaldía (Gemeinderegierung) der Hauptstadt nicht sorglos macht. Den derzeitigen Vorsprung der amtierenden FMLN-Bürgermeisterin Violeta Menjívar wollen sie unbedingt ausbauen. Denn 2006, als der Sieg offiziell an 44 Stimmen hing, waren die Umfrageergebnisse ähnlich positiv gewesen. Generell geht der FMLN davon aus, dass es für einen offiziellen Präsidentschaftssieg eine veritable Lawine von Frentestimmen braucht, um die verschiedenen Betrugsmechanismen zu neutralisieren. Das schien bis letztes Jahr eine illusorische Perspektive – die dramatische soziale Entwicklung aber ermöglicht es heute, sie nicht von vornherein als pures Wunschdenken abzutun.


Wahlresultate 1994-2006

Jahr

WAHLEN

FMLN

%

ARENA

%

ANDERE

%

TOTAL GÜLTIGE STIMMEN

1994

Präsidentschaft

378,861

31.7

818,055

68.3

-

-

1,196,916

Abgeordnete

287,811

21.4

605,775

45.0

451,691

33.6

1,345,277

BürgermeisterInnen

276,124

21.3

598,391

46.1

422,487

32.6

1,297,002

1997

Abgeordnete

369,709

33.0

396,301

35.4

353,593

31.6

1,119,603

BürgermeisterInnen

365,175

32.6

410,537

36.7

343,577

30.7

1,119,289

1999

Präsidentschaft

343,472

29.1

614,268

52.0

224,508

19.0

1,182,248

2000

Abgeordnete

426,289

35.2

436,169

36.0

347,811

28.7

1,210,269

BürgermeisterInnen

415,003

34.1

438,859

36.0

364,134

29.9

1,217,996

2003

Abgeordnete

475,130

34.0

446,279

31.9

477,317

34.1

1,398,726

BürgermeisterInnen

471,042

33.6

491,452

35.0

440,432

31.4

1,402,926

2004

Präsidentschaft

812,519

35.7

1,314,436

57.7

150,518

6.6

2,277,473

2006

Abgeordnete

785,072

39.3

783,230

39.2

429,712

21.5

1,998,014

BürgermeisterInnen

670,711

33.5

791,361

39.6

538,828

26.9

2,000,900

IV. Mechanismen des Wahl-Betrugs

Die Betrugsvarianten reichen von Mitteln wie Stimmenkauf oder Bedrohung von Oppositionellen über den ganzen Bereich des sogenannten technischen Betrugs (rund um das Wahlregister) bis hin zu den legalen Möglichkeiten der medialen Erzeugung von eigentlichen Massenpsychosen (wie „bei einem FMLN-Sieg wandert das Kapital aus“).

Angst- und Terrorkampagnen

Beträchtliche Teile der Gesellschaft verdrängten die schrecklichen Erfahrungen aus der Kriegs- und Vorkriegszeit, aus Angst, diese Verhältnisse würden bei ihrer Thematisierung wieder zurückkehren. Auf dieser Klaviatur spielte die Propaganda der Rechten lange erfolgreich, indem sie unterschwellig, aber für die Leute unverkennbar, erkennen liess, dass ein allfälliger Wahlsieg des FMLN ein casus belli darstelle. Dafür dient auch, dass der Frente systematisch in die gewalttätige Ecke gestellt wird. Zur Zeit überbieten sich Regierung und Medien darin, den FMLN als Intimkomplizen der kolumbianischen „Narcoterroristen“ zu porträtieren.

In eine ähnliche Richtung zielt eine andere Dauerkampagne, welche den Frente als Handlanger von Hugo Chávez darstellt. Die mexikanischen Wahlerfahrungen, als es mit dieser Darstellung gelungen war, der Popularität von López Obrador etwas entgegen zu setzen, blieben den ARENA-StrategInnen natürlich nicht verborgen. „Nahrung“ erhielt diese Desinformationsstrategie mit einem Bericht der US-Geheimdienstkoordinators McConnell vom letzten Januar, der ohne einen Hauch von Substantiierung nebenbei bemerkte, eine finanzielle Einflussnahme von Chávez auf den Wahlkampf des FMLN sei nicht auszuschliessen. Die salvadorianischen Amtsstellen und Medien waren angesichts dieser „dramatischen Warnung“ in wochenlangem Aufruhr, Präsident Saca eilte subito nach Washington. Mit energischer Miene kündigte er nach seinem Rückflug an, gegen jeden Angriff auf die nationale Souveränität entschlossen vorzugehen und die Staatsanwaltschaft einen allfälligen Landesverrat des FMLN untersuchen zu lassen. Wenige Tage später schmetterte ARENA im Parlament erneut einen FMLN-Vorstoss zur Regulierung der Parteienfinanzierung ab. El Salvador ist das einzige Land im Kontinent, das überhaupt keine Regelung für Wahlkampfspenden kennt. Diese „Chavisierungs“-Kampagne ist übrigens in einer vom schweizerisch-venezolanischen Demoskopen Gustavo Keller verfassten und von der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) finanzierten Studie zum Profil des ARENA-Kandidaten im November 2007 als zentrales Strategieelement gegen den FMLN herausgearbeitet worden, zusammen mit der Präsentation von ARENA als „sozialer Reformkraft“.

Leider gehört ins Wahlvorfeld auch eine Zunahme von Morden an politischen AktivistInnen, wie wir sie oben schon erwähnt haben. Es ist zu befürchten, dass solche Morde in den kommenden Monaten zunehmen werden. Ebenso ist mit Funden von zerstückelten Frauenleichen oder ähnlich Makabrem zu rechnen, wie es sich jeweils vor den Wahlen eingebürgert hat, um danach spurlos zu verschwinden (genau gleich im Nachbarland Guatemala).

Stimmenkauf

Am Wahltag wird der Stimmenkauf ins Gewicht fallen. Grundsätzlich basiert er auf Abhängigkeiten, etwa vom Arbeitgeber oder von einem staatlichen Subventionsprogramm zur „Armutsbekämpfung“. Zwar sind fünf oder zehn Dollar im Monat für eine Dorffamilie, etwa im Gegenzug für den Schulbesuch der Kinder, keine Bonanza, aber dennoch unverzichtbar. Und sie können eine Stimmabgabe für ARENA kosten. Ein Funktionär kann die „Begünstigten“ des Subventionsprogramms gruppenweise in die Nähe des Wahllokals führen, in dem zuerst eine ARENA-Aktivistin ihren Wahlzettel nur zum Schein in die Urne wirft. In Wirklichkeit bringt sie ihn an den Treffpunkt, wo er ausgefüllt und der ersten „begünstigten“ Person übergeben wird. Diese erhält ihren eigenen Wahlzettel, wirft aber den mitgeführten ein, beobachtet von einem sich nahe der Urne aufhaltenden ARENA-Aktivisten, und bringt nun ihrerseits den neuen Wahlzettel zurück zum Treffpunkt. Dort kann auch eine Belohnung in Form eines Hamburgers und einer Cola winken. Bei den Wahlen 2004 beobachtete unsere Delegation ein solches Vorgehen.

Wahlkonterreformen

Wichtige Entscheide pflegt die Rechte in Form eines Überraschungscoup im Parlament einzubringen, wobei die üblichen parlamentarischen Verfahren wie Kommissionen und Anhörungen ausgesetzt werden und es binnen weniger Stunden zum Händeheben der rechten Mehrheit kommt. So geschehen wie erwähnt bei der Dollarisierung oder etwa beim Freihandelsabkommen mit den USA. „Madrugones“ nennt man dieses Vorgehen - sie erfolgen meist zu später Stunde, wenn die übermüdeten ParlamentarierInnen schon lange ins Bett wollen, daher die auf Morgendämmerung anspielende Bezeichnung. ‚Madrugones’ kommen in der Regel auch bei Reformen des Wahlgesetzes zur Anwendung. So legalisierte die Rechte im Schnelltempo, dass es im Obersten Wahlgericht TSE bei den meisten Beschlussfassungen fortan nicht mehr einer Mehrheit von vier der fünf Magistraten brauche, sondern nur noch deren drei. Hintergrund: Das Parlament wählt je einen Magistraten (alles Männer) der drei stärksten Parteien sowie zwei Magistraten aus einer Vorschlagsliste des Obersten Gerichts, von denen der eine klar zu ARENA gehört, der andere eher zum FMLN tendiert. Mit der jetzt gültigen Regelung ist der FMLN im TSE weitgehend ausgeschaltet, „lästige“ Konsenslösungen gehören der Vergangenheit an.

Zuvor hatte die rechte Parlamentsmehrheit in offener, aber straffreier Verletzung des Wahlgesetzes einen Vertreter der ARENA-Satellitenpartei PCN statt des von der Koalition CD/PDC vorgeschlagenen Fachmanns in das Wahlgericht gewählt. Bei den vorausgegangenen Wahlen hatte die Koalition den (relevanten) dritten, der PCN nur den vierten Platz belegt. Letzten Dezember kam es bei einem weiteren „madrugón“ in Sachen Wahlkonterreform zu einer Reihe ziemlich bestürzender neuer Regelungen. Insbesondere liegt es nun in der Kompetenz des TSE (bzw. eben seiner Rechts-Mehrheit), die interne Aufgabenverteilung in den departamentalen und kommunalen Wahlbehörden, den JED und JEM, festzulegen, was bisher in deren Kompetenz lag. Diese beiden Instanzen sind sehr wichtig für die praktische Organisation der Wahlen wie auch die territoriale Zentralisierung der Stimmzettel und ihre Auszählung. Ebenso bedeutsam ist die Neuregelung punkto Ungültigkeit eines Stimmzettels. Unter anderem bedurfte es für seine Gültigkeit der Unterschrift und des Stempels der Sekretärin/des Sekretärs der JRV (Wahltischkomitee). Neu fallen diese beiden Erfordernisse weg. Zwar dürfte es gerade in kleinen Orten, wo sich alle kennen, nicht selten vorgefallen sein, dass der Sekretär schlicht „vergass“, den noch leeren Stimmzettel der als Sympathisantin der Gegenpartei bekannten Nachbarin zu unterschreiben, womit ihre Stimme automatisch ungültig wurde. Allerdings war das nur dort möglich, wo die VertreterInnen der anderen Parteien entweder schliefen oder eingeschüchtert waren. Mit der Neuregelung ist es leichter möglich, falsche Stimmzettel in die Urne zu befördern.

So funktioniert es in der Theorie …

Die Personalangaben zu allen BürgerInnen werden von den Alcaldías (Bürgermeisterämter) an das EinwohnerInnenregister - Registro Nacional de Personas Naturales, RNPN - geliefert. Das RNPN leitet eine Reihe von Personendaten für alle Wahlberechtigten (ab 18 Jahre) an das WählerInnenegister - Registro Electoral, RE - weiter, eine interne Abteilung des TSE. Um das Wahlrecht auszuüben, bedarf es seit 2002 des u.a. mit biometrischen Angaben (Fingerabdruck) ausgestatteten Personalausweises, des Documento Único de Identidad, DUI. Die DUIs werden von einem privaten Unternehmen hergestellt, Docusal, welches das RNPN und dieses das RE über seine Neuausfertigungen informiert. Diese DUIs ersetzten die früheren Wahlausweise und werden nicht nur für Wahlen, sondern generell für den Verkehr mit Behörden und der Geschäftswelt benötigt. Sie sind fortlaufend nummeriert. Aus dem Wahlregister erstellt das TSE die für den jeweiligen Wahlgang massgebende WählerInnenliste - den Padrón Electoral. Der ‚Padrón’ ist eine um etwa ihres Wahlrechtes verlustig gegangene Strafgefangene oder Tote bereinigte Fassung des RE. Die Alcaldías melden Todesfälle dem RNPN, das wiederum das TSE informiert. Jeder Wahltisch erhält wiederum einen Auszug aus dem ‚Padrón’ mit Angaben inklusive Foto und DUI-Nummer zu seinen 400 (seit letztem Dezember: 450) Wahlberechtigten.

… und so in der Praxis

Das RNPN und das RE sind exklusive ARENA-Domänen. Die Leitung des RNPN wird vom Staatspräsidenten ernannt, jene des Registro Electoral vom TSE. Dass laufend Tote im Padrón auftauchen, ist offiziell. Noch bei jeder Wahl hört man die Klage von stimmberechtigten BürgerInnen, dass jemand anders schon an ihrer Statt die Stimme abgegeben habe. Viele Informationen weisen auch auf einen „Wahltourismus“ hin, bei dem in Bussen herangefahrene BürgerInnen von Nachbarländern sich an den salvadorianischen Wahlen beteiligen. Es gibt konsistente Hinweise auf MehrfachwählerInnen, die in verschiedenen Gemeinden gleichzeitig „wahlberechtigt“ sind. „TouristInnen“, Phantom- und MehrfachwählerInnen verfügen über DUIs. Wie kommt das?

Die Spinne im Netz

Der Blick richtet sich auf das EinwohnerInnenregister RNPN und die von ihm unter Vertrag genommene Firma Docusal, welche, wie gesagt, die DUIs anfertigt. Das Unternehmen ist ein Ausbund an Intransparenz. Während einige seiner salvadorianischen ExponentInnen aus Politik und Oligarchie bekannt sind, scheinen an der Firma die frühere Muttergesellschaft der Western Union, ein holländisches und ein mexikanisches, auf Sicherheitspapiere spezialisiertes Unternehmen, eine zentralamerikanische Kapitalgruppe um einen mafiösen Banker aus Nicaragua sowie, nach Presseangaben vom letzten Jahr, ein völlig unbekanntes, in Panama domiziliertes Unternehmen beteiligt zu sein.

Im Mai 2004 informiert die RNPN-Leitung über 24 Docusal-Verletzungen des Vertrags mit dem RNPN, so etwa, dass Docusal die Zugriffslogs auf die DUI-Datenbank nicht offen legt. Im Mai 2006 beschliesst das RNPN unter seiner neuen Leitung von Miriam Mixco, über Nacht die Verbindung mit seinem Hauptserver zu kappen, stellt aber laut Mixco Zugriffe aus den USA fest, „möglicherweise über eine Verbindung, welche Docusal mit unserem Rechenzentrum hat“ (La Prensa Gráfica, 5.7.07). Der Zugang zum Server sollte nur während der ordentlichen Arbeitszeit möglich sein, just um unkontrollierte Eingaben in die Datenbank zu vereiteln. Im Juli 2006 kritisiert der staatliche Rechnungshof, dass das „RNPN keine adäquate Kontrolle über die DUI-Register ausübt“; nur über einen Lesezugriff auf die DUI-Register verfügt, was seine Kontrollaufgabe erschwere; überhaupt keinen Zugang zur Datenbank mit den Fingerabdrücken (AFIS) hat und generell von Docusal über bedeutende Veränderungen in der Arbeitsweise des Unternehmens nicht informiert wird (La Prensa Gráfica, 24.7.06). Ohne Zugriff auf die AFIS-Datenbank ist an eine Überwachung der Docusal-Aktivität und der im Lande zirkulierenden DUIs nicht zu denken, da jede Änderung oder Neuanfertigung eines DUI vom Fingerabdruckcheck abhängig ist, wie Mixco der Prensa Gráfica am 8. Mai 2007 erklärt hatte.

Mixco gab am 13. März 2007 die Eröffnung eines Arbitrage-Verfahrens gegen Docusal bekannt, unter anderem, weil das Unternehmen nur 14 statt der vertraglich 28 öffentlichen DUI-Zentren betrieb. Das hatte zu berüchtigten Warteschlangen geführt, es war keine Seltenheit, dass jemand den ganzen Tag vergeblich angestanden war. Später wurde bekannt, dass der Mixco-Vorgänger und heutige Generalstaatsanwalt Garrid Safie Docusal zu diesem Vertragsbruch autorisiert hatte. Safie war zuvor als Chef des Katasteramtes in die Veruntreuung von Weltbankkrediten verwickelt gewesen. Zur Begründung ihres Vorgehens liess Mixco auch folgendes verlauten: „Jeden Tag entfernt [Docusal] drei bis vier Geräte [zur DUI-Herstellung] aus jedem Duicentro, ohne zu sagen, wann sie sie zurück bringen würden“ (La Prensa Gráfica, 14.3.07). Am 15. März gab Präsident Saca die Ernennung von Juan-José Francisco Guerrero zum neuen Leiter des RNPN bekannt und sprach sich später ultimativ für die Verlängerung des auf Ende 2007 auslaufenden Vertrags des RNPN mit Docusal aus. So kam es denn auch. Plötzlich hatte RNPN-Chef Guerrero nämlich mitteilen können, dass die relevanten strittigen Punkte gelöst seien: Docusal habe die Sourcecodes der angewandten Software mitgeteilt (worüber u.W. nie mehr etwas zu hören gewesen war) und schule jetzt auch das RNPN-Personal in der Softwareapplikation (Prensa Gráfica, 28.10.07).

Eigentümliche OAS

Die Möglichkeit des „technischen Betrugs“ via Wahlregister u.ä. ist seit Jahren in der meisten Leute Munde. Zusammen mit anderen Formen des legalen und illegalen Wahlbetrugs führt dies zur weit verbreiteten Gewissheit, dass bei Wahlen betrogen wird. Auf die Länge ist dies der Legitimität der neoliberalen Politik nicht sonderlich förderlich, was auch die OAS weiss, die in El Salvador die meisten Wahlen beobachtet hat (Wir hatten ihre offiziellen WahlbeobachterInnen beobachtet, wie sie im Sitz des TSE, als dessen Präsident 2004 den unumkehrbaren ARENA-Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verkündete, den ARENA-Militanten jubelnd in die Arme fielen). Als Ergebnis der Diskussionen zwischen Regierung, OAS und FMLN wurde eine grundlegende Überprüfung des Wahlregisters (RE) durch die OAS beschlossen,

Die Untersuchung sollte im Januar 2007 starten. Doch es kam, wie es bei derlei Sachen üblich ist in El Salvador: Während Monaten waren TSE und Finanzministerium damit beschäftigt, die letzten Details der Finanzierung der OAS-Mission ins Reine zu bringen, und als dann die Finanzierung endlich stand, hatte die OAS interne „bürokratische“ Probleme, wie sich ihre Sprecher ausdrückten. Um es kurz zu machen, die RE-Überprüfung startete nicht im Januar, sondern im September 2007. Da die Resultate aber im Dezember vorliegen mussten, um für die kommenden Wahlen noch reformrelevant zu sein, „verzichtete“ man auf eine Totalüberprüfung zugunsten einer Stichprobe, was beim FMLN und bei mit der Wahlproblematik befassten NGOs Besorgnis auslöste. Am 20. Dezember stellte die OAS-Mission ihren Bericht vor. In der Einführung heisst es: „Das Wahlregister ist ein vertrauenswürdiges und verbesserungsfähiges Instrument mit einem Qualitätslevel von 95%“ (was internationalen Standards entspreche). ARENA und ihr TSE klopften sich stolz auf die Schultern, die Medien wurden nicht müde, das schöne Sätzchen zu wiederholen und gaben sich sogar kritisch: Die Mission habe zu beachtende Verbesserungsvorschläge eingebracht; insbesondere sollten die Meldeformulare bei Geburt und Tod in allen Gemeinden des Landes standardisiert werden. Den Bericht, der sofort hätte veröffentlicht werden sollen, hält das TSE noch immer unter Verschluss – mit Grund. Denn auf seinen 145 Seiten steht so Manches, was einem die Haare zu Berge stehen lässt – und es hat nichts mit den Meldeformularen zu tun. Generell lässt sich sagen, dass der „technische“ Teil des Berichtes über weite Strecken eindeutig besser ist als seine „politische“ Zusammenfassung in den „Empfehlungen“ und „Schlussfolgerungen“, welche sogar den ihnen zugrunde liegenden Befunden oft widersprechen. Eine Papierkopie des allerdings Vorkenntnisse voraussetzenden Berichts „Auditoría Integral al Registro Electoral de la República de El Salvador“ kann beim ZAS bestellt werden.

Mit Tand und Spiegelchen

Nachdem aus der „Auditoría integral“ faktisch eine auf drei Monate beschränkte Stichprobe wurde und die eigentliche Arbeit bloss einen knappen Monat in Anspruch nahm, lieferte die OAS-Mission bei der Definition der Probe ein Gesellenstück sui generi. Die Stichprobe bestand aus dem Abgleich von 50'000 (Personen-) Datensätzen im Wahlregister mit ihren Pendants im RNPN und von je 10'000 Datensätzen des Wahlregisters mit den ihnen zugrunde liegenden Primärquellen in den 14 Departementen (Geburts- und Todesurkunden sowie Gerichtsbeschlüssen). Es wurden, wie die Mission ausführlich beschreibt, je drei solcher Datensätze in drei Couverts verschlossen, von denen eine Notabelnkommission am 22. Oktober 2007 eines vor laufenden TV-Kameras auswählte und versiegelte. Am 16. November wurden die Siegel wiederum in Anwesenheit der Notabeln, sonstiger Prominenz und der Medien gebrochen und dann sogleich die Arbeitsteams losgeschickt. Nett. Doch wie kam die Datensätze in die Couverts? Dazu lässt sich die Mission praktisch nicht aus. Ein Statistiker sei zur Bestimmung der Stichproben angestellt, eine handelsübliche Software mit Zufallsgenerator (SAS v9.1.3, PROC SURVEYSELCT) verwendet worden. Es gibt diese Redenwendung in Lateinamerika, von den Conquistadores, die mit „Tand und Spiegelchen“ die Indígenas gelegt bzw. um ihr Gold gebracht haben. Grosses Tamtam vor surrenden Kameras bei sekundären Schritten, völlige Diskretion bei der entscheidenden Auswahl. Der FMLN-Magistrat im TSE bestätigte im Gespräch, dass die Opposition in diesem Bereich keine auch nur minimale Kontrolle gehabt habe. Zum Vergleich: Als in Venezuela Hugo Chávez 2004 das Absetzungsreferendum gewonnen hatte, hatten die gleiche OAS, das Carter Center, der Nationale Wahlrat und die Opposition je einen Informatikexperten bestimmt, damit diese gemeinsam ein Programm ausarbeiteten und einsetzten, um – die Wahltische für die Kontrollprobe zu bestimmen!

Wuchernde Unstimmigkeiten

Ein gravierendes Manko dieser Überprüfung bestand darin, dass der OAS/TSE-Vertrag sich einzig auf das RE bezog, aber nicht auf die Vorgänge im EinwohnerInnenregister RNPN und in Docusal. Tatsächlich aber ist das Wahlregister nichts anderes als ein Resonanzkasten des RNPN (das wiederum, wie wir gesehen haben, in vielem von Docusal abhängt). Einige der hochgerechneten Befunde lassen dennoch aufhorchen. Im RE sind 4.1 Millionen Datensätze vorhanden. Bei 27% davon weisen die DUIs keine oder eine unvollständige Adresse auf (theoretisch gehört die Überprüfung der Adresse zu den Aufgaben der Wahltischbehörden). Bei über 100'000 WählerInnen stimmen die Angaben zwischen RE und RNPN nicht überein, was „unmöglich“ ist und nicht erklärt wird. Das RE führt 89'000 Verstorbene als Lebende in seinen Listen. Bei 101'646 WählerInnen fehlt die Geburtsurkunde in der Gemeinde.

Was bedeutet dies? Der technische Betrug kommt mutmasslich vor allem bei relativ knappen Resultaten zum Tragen, nur schon, weil er für Teile seiner Umsetzung – etwa MehrfachwählerInnen - diskreter AktivistInnen bedarf. Eine Reihe von Gemeinde- und departementalen Abgeordnetenwahlen können so aber entschieden werden. Bei Präsidentschaftswahlen käme der technische Betrug vor allem in einer Situation eines relativen Patts zum Tragen, denken wir an die beiden letzten Präsidentschaftswahlen in den USA. Nun bedeuten die 27% DUIs mit unklaren oder fehlenden Adressen natürlich nicht, dass sie alle betrugsrelevant wären. Schlechte Kataster hängen damit zusammen und vor allem die Existenz sogenannter „wilder Siedlungen“. Um ein Beispiel zu geben: Auch der FMLN-Magistrat im TSE fällt unter die Kategorie ungenauer Wohnortsangaben. Andererseits hat der FMLN nach den Wahlen 2006 bei einer genauen Nachprüfung des Padróns der Departementshauptstadt Zacatecoluca mithilfe seiner lokalen Basiskomitees herausgefunden, dass viele der eingetragenen WählerInnen mit schlicht nicht existierenden Adressen eingetragen sind. Die „Unstimmigkeiten“ im RE ermöglichen nicht nur ein Sammelsurium von Gerüchten, sondern eben schlicht auch reale Betrugsvorgänge. Die OAS-Mission tut dabei herzlich wenig, entsprechende Verdachtsmomente zu widerlegen. So bezeichnet sie die über 100'000 Fälle fehlender Geburturkunden als geklärt: Zwar fehlten die Dokumente in den Gemeinden, wie der Abgleich zwischen RE und Primärquellen ergeben habe, doch in allen Fällen verfüge das RNPN über eine Kopie. Das ist nett. Nur, wie ist das RNPN zu seinen Kopien gekommen, wenn nicht von den Kommunen? Die sind laut salvadorianischem Gesetz einzig zuständig für Geburturkunden.

Informatik und phantasierte BürgerInnenkontrolle

Am wichtigsten jedoch sind die Missionsbefunde in den Bereichen der Informatik und der (Nicht-) Kontrolle des Zugangs zu den Datenbanken im RE. Da steht etwa: Die „Programme … werden informell entwickelt“ (S. 84). Eine Erfassung der verschiedenen Softwareentwicklungen hat das TSE nicht. Auf der nächsten Seite lesen wir: Im RE „wird der vom RNPN erzeugte Checkcode nicht einbezogen (man kennt das Modul nicht)“. Und: „Diese Programme beinhalten nicht die Validierung des vom RNPN zum DUI angebrachten Kontrollcodes. Das TSE begnügt sich damit zu verifizieren, dass es sich um ein numerisches Feld handelt, da der Algorithmus zur Schaffung des Kontrollcodes nicht bekannt ist“. Doch wir sind nicht in der Witzstunde. Es handelt sich um einen sogenannten Hashcode, welcher aus einer Reihe von Daten erstellt wird, dergestalt, dass eine Änderung dieser Daten unfehlbar eine Änderung des Hashcodes nach sich zieht. Beim Hashcode handelt es sich um ein bewährtes Mittel für die Datenkontrolle. Da das TSE nicht über den Algorithmus des RNPN verfügt, kann es keine Hashkontrolle ausüben und begnügt sich damit zu gucken, ob im Feld „Hashkontrolle“ eine Zahlenfolge erscheint! Mit andern Worten: null Kontrolle. Wir würden gerne mal den Polizisten kennen lernen, der bei der Identitätskontrolle nicht auf die Passnummer schaut, sondern darauf, ob irgendeine Nummer da ist. Den Gipfel stellt aber vermutlich folgendes Sätzchen dar: „Es kann wegen der mangelnden Methodologie bei der Softwareentwicklung nicht bestätigt werden, dass das in der Überprüfung und in seinem Inhalt und seinen Validierungen beobachte Programmierungmodul das gleiche ist, das zur Zeit von den Users in der Produktion angewendet wird“ (86). M.a.W.: Der Bereich Datenbank des RE ist ein derartiger Saustall, dass wir nicht wissen, ob das, was wir angeschaut haben, auch das ist, was sie verwenden. Diese „Unordnung“ erstreckt sich auch auf die Bestimmungen über die Zugangsregelung für die Datenbanken: „Die Handbücher für die [RE-] internen Vorgehensweisen sind den verschiedenen Funktionären unbekannt“, sind nicht „standardisiert“, aber dafür „konfus“ (87).

Ein „Juwel“ stellt auch noch folgende Aussage zum Problem der Zugriffe auf die Datenbanken des RE dar: „Das Folgende gibt es nicht: ein Verzeichnis oder Log der Operationen“ (90). Offiziell weiss also niemand im RE und schon gar nicht in der OAS-Mission, was in den Datenbanken eigentlich gemacht wird. Oder auch dies ist von Interesse: Nach der „Prüfung“ der vom RNPN übermittelten Daten (wir haben gesehen, was darunter zu verstehen ist) werden diese dem fünfköpfigen TSE-Plenum zur Zustimmung oder Ablehnung ihrer definitiven Aufnahme ins RE vorgelegt. Allein, „nach der Eintragung der angenommenen Daten kommt es erneut zu Differenzen zwischen dem Total des Angenommenen und des Eingetragen“ (95). Das weiss auch der FMLN-Vertreter im TSE, Eugenio Chicas: Die Daten, welche die Magistraten in corpore für die Eintragung ins RE frei geben (hier gilt noch nicht die einfache Mehrheit), sind andere als jene, die dann auch eingetragen werden. Die Mission begnügte sich mit einem Stirnrunzeln.

Wir erfahren etwa auch, dass die RE-Leitung darüber informierte, dass es „60 Fälle von Personen mit mehr als einem DUI“ gibt, „von denen 30 gelöst wurden“ (108). Ach ja? Die Mission hält es für „bemerkenswert, dass das theoretisch unfehlbare System der Fingerabdruckvergleiche nicht einem dieser Fälle auf die Spur kam“, und weiss dann nichts mehr zu sagen. Das könnte wiederum mit der Auftragsbeschränkung auf das RE zu tun haben unter Ausschluss der zugrunde liegenden RNPN und Docusal, dem Unternehmen, das die Mehrfachausstellung der DUIs getätigt hat. Vermutlich aus diesem Grund wurde auf der gleichen Seite auch bloss folgender Befund präsentiert: „Es wurden 12'365 Sprünge in der fortlaufenden Nummerierung der DUIs entdeckt, Nummern, die nicht zugeordnet oder mit einem ausgestellten DUI assoziiert sind.“ Es wäre interessant zu wissen, was für eine Software es Docusal erlaubt, banalste Programmalgorithmen wie die fortlaufende Nummerierung zu „umgehen“ und was mit den offiziell nicht zugeordneten Ausweisnummern gemacht wird.

Und weiter im Text

109 Empfehlungen von unterschiedlicher Relevanz hatte die OAS zur Verbesserung des RE formuliert, 52 davon will das TSE für die Wahlen 09 angeblich umsetzen. Als Beispiel werden stets zuerst zwei nebensächliche Bereiche genannt: Standardisierung der Meldeformulare für Geburten und Todesfälle und besserer Kommunikationsfluss zwischen Gerichten und TSE. Wie ernst es dem TSE mit dem Reformvorhaben ist, zeigte seine Dreiermehrheit mit ihrem Beschluss vom 22. Mai 2008, zwei letzten März unterschriebene Vertragspunkte mit der OAS auszuhebeln. Die OAS sollte nach Vertragstext für das TSE zwei Handbücher ausarbeiten mit klaren Vorgehensweisen für eine permanente TSE-interne Kontrolle des RE und für eine ebenso permanente Überprüfung des RE durch die im Parlament vertretenen politischen Parteien. Letztere sind zu diesem Behuf in der Junta de Vigilancia Electoral (JVE, Wahlüberwachungs-ausschuss) organisiert. Die Registerkontrollaufgabe der politischen Parteien ist sowohl in der Verfassung wie auch im Wahlgesetz unzweideutig festgehalten, wird aber seit Jahren erfolgreich von ARENA unterbunden. Die Informatik-Experten der JVE erhalten schlicht keinen Zugang zur Datenbank des RE, wie der OAS-Bericht kurz bemerkte. Man ist es in der OAS nicht gewohnt, in entscheidenden Punkten einfach vor die Tür gesetzt zu werden, so sehr TSE-Präsident Walter Araujo auch die Frage der „nationalen Souveränität“ bemühte. Zudem hatten der FMLN-Magistrat im TSE, Eugenio Chicas, bzw. seine Stellvertreterin, Silvia Cartagena, öffentlich wirksam eine entschiedene Kritikkampagne am Vorgehen der TSE-Mehrheit initiiert. Nach zwei Wochen war der Druck zu gross, die TSE-Mehrheit trat den Rückzug an und erklärte die „kleine Konfusion“ für beendet. Nachdem die OAS tatsächlich eine eindeutig politisch motivierte Gefälligsbekundung zum Wahlregister von sich gegeben hat, geht es jetzt dem FMLN darum, sie nicht aus der Pflicht zu entlassen, für die halbwegs seriöse Umsetzung ihrer eigenen, zurecht gestutzten Empfehlungen zu sorgen. Die demokratische Kontrolle des Wahlregisters hat für den FMLN eindeutig oberste Priorität. Allerdings ist anzunehmen, dass ARENA genau das blockieren wird – es bleibt nur noch wenig Zeit bis zur definitiven Schliessung des Wahlregister am 18. September 2008 – und dass die OAS erneut mit doppeltem Diskurs, technisch für Reformen, politisch für ARENA, reagieren wird.