Sonntag, 28. April 2019

Die Kommune ist die territoriale Zelle des Sozialismus


 Federico Simonetti befraght Gsus García, Sprecher der Comuna Socialista Altos de Lídice, einer Gegend im Gemeindebezirk La Pastora von Caracas.




FS: Zuerst das Wichtigste: Die von euch entwickelte Erfahrung nennt ihr Comuna Socialista Altos de Lídice. Warum sozialistisch? Was versteht ihr darunter?
GG: Eine neue Art, die Sachen zu machen. Eine andere Form, als die, in der wir erzogen wurden. Von einem wissenschaftlichen Standpunkt fehlt uns vielleicht noch viel, um in der Idee unseres Sozialismus weiterzukommen. Aber ich denke in der Kommune gibt man das beste Beispiel für den Aufbau des Sozialismus in der Praxis. Vielleicht ist einer der grossen Fehler der bolivarischen Revolution, all diese Prozesse nicht systematisiert zu haben. Hier hat Reinaldo (Itzurrita)[1] vorwärts gemacht, ja, Reinaldo hat da viel Bewegung reingerbacht. Wenn wir an der Kollektivierung des Tuns arbeiten, auf jeder Ebene - Gesundheit, sozial, wirtschaftlich, produktiv – dann machen wir Sozialismus. Natürlich haben wir weiter viele Beziehungen mit rein kapitalistischer Logik. Aber wenn der Reichtum, den wir mit unserer Arbeit erschaffen, gleich aufgeteilt oder direkt in Soziales investiert wird, wenn es nicht um Profit geht, sondern um die Probleme in der Comunidad, dann erschaffen wir etwas Neues. Das war anders früher. Wenn jemand im Viertel in eine soziale Hilfe oder in die Feier des Tages des Kindes investierte, dachte man: «Dieser Typ ist Copain, der ist o. k.». Nein! Hier geht dieses Ding mit den guten Leuten nicht mehr, das muss sich in ein Regierungssystem wandeln. Und wenn wir das in ein System der territorialen Regierung umwandeln, dann schaffen wir Sozialismus. Da sind wir uns sicher. Im kapitalistischen Rahmen haben wir keine Figur dieser Art gefunden. Deshalb denken wir, dass wir in der Kommune[2], im System der Territorialarbeit, in der sozialistischen Kommune den Sozialismus gebären.

FS: Chávez sagte, man müsse zum Sozialismus gelangen. Aber er hatte das, was du sagst, vollkommen klar, aktuell herrschen die kapitalistischen Beziehungen. Es muss also zwischen Kapitalismus und Sozialismus einen Übergangsprozess geben. Was ist dabei die Rolle der Kommune?
GG: Die der Zelle, wo das geboren wird. Sie ist der Raum des Experimentierens, der Kreation. Es gibt nichts anderes.  Entweder das ist im Territorium oder es ist nicht. In der Kommune oder nicht. Die Kommune ist nichts anderes als diese Fabrik, in der wir alle als Arbeiter sind, wo wir mit Muttern und Schlüsseln hantieren, wo wir dem Motor Sprit geben. Chávez hat gesagt, die Kommune ist die territoriale Keimzelle des Sozialismus. Klar, es gibt einige Thinktanks, Intellektuelle und Leute, die gerne ausserhalb des Territoriums denken – bueno, das ist ihre Form, die Dinge zu machen. Aber wir denken, machen, korrigieren und denken, machen, korrigieren – und so sind wir drauf. Wenn du nicht experimentierst, wie kreierst du Sozialismus? Die Kommune ist der Raum dafür.

FS: Kürzlich sagtest du was im Gesundheitspodium, das sich mir einprägte. «Wir müssen den alten Staat überwinden.» Was meinst du damit? Wie ist der Staat in Venezuela heute?
Uff! Etwas Schrecklicher, Alter! (Lachen.)  Eine sehr bürokratische, sehr langsame Struktur. Die sich nicht an die Prozesse der Kommunen anpasst. Aktuell haben wir Prozesse, die sehr schnell sind, weil sie schnell sein müssen, wir sind mitten in einem Krieg, wir können nicht langsam sein. Aber wenn du einer Institution ein Projekt präsentierst, sagten sie dir: «Nein! Das muss zuerst hier, dann dort durch, dann braucht es diese Unterschrift und dann die des anderen, und dann bin ich dran.» Und so vergeht ein Jahr und nichts läuft. Der Staat ist grau geworden. Als Chávez die Misiones[3] vorantrieb, machte er das genau, um einen parallelen Staat zu gründen, der schneller sein sollte, der weiter ins Innere wirken und nicht so bürokratisch sein sollte. Chávez sagte 2012, dass der Übergang zum Sozialismus anstehe, dass wir das auf territorialer Ebene machen müssten, auf der Ebene der Kommunen, dafür brauche es einen radikalen Richtungswechsel. Leider wurde das mit der Zeit verwässert. Der Staat ist bloss noch ein Hindernis, mit dem wir kämpfen müssen. Und immer schauen, dass jede Kommune auf eigenen Beinen steht und genügend organisiert ist, um möglichst wenig vom Staat abzuhängen. Denn eine Kommune, die vom Staat abhängt, ist wie ein Mensch im vegetativen Stadium, mit strombetriebener Sauerstoffzufuhr. Ein Mensch, der ohne das stirbt. Die Kommune darf nicht sterben, weil der Staat versagt. Die Kommune muss Staat sein, das Territorium regieren und darf nicht vom Staat abhängen, sonst stirbt sie.

FS: Im Lauf der Geschichte gab es viele Erfahrungen mit Volksmacht. Und immer gab es die Debatte, ob die Volksmacht sich ins Innere des Staates oder parallel zu ihm entwickeln soll. Wie siehst du das? Wie sieht man das in Venezuela?
GG: Nun, da gibt es entgegengesetzte Visionen. Selber war ich in beiden mal zuhause. Also, ich glaube an die Vision, der zufolge wir manchmal im Staat sein müssen, um ihn von innen zu zerstören, so wie Chávez. Und etwas Paralleles entwickeln. Ich glaube, beides ist richtig. So haben z. B. viele Leute Ángel [Prado] von El Maizal[4] kritisiert, weil ihn seine eigenen Leute als Bürgermeister vorgeschlagen haben. «Wenn er in der Kommune ist, warum will er in die Gemeinderegierung?» Nun, genau weil wir dort einen Infiltrierten brauchen, der so viel Macht wie möglich in Volksmacht umwandeln soll, während diese Volksmacht gleichzeitig den neuen Staat aufbaut. So dass der nächste Bürgermeister, der in vier Jahren regieren will, sagen muss: «Und was mach ich jetzt hier, wenn dieser Typ praktisch alles an die Kommune übergeben hat?» Na ja, vielleicht kann er das Lokal für Ping-Pong benutzen?  Ich glaube, es braucht beides. Aber wer immer aus der Kommune, Revolutionär, Revolutionärin, ohne eine Klarheit, was er/sie vorhat, in den Staat eintritt, nur mit der reinen Annahme, den Sozialismus aufzubauen, ist er oder sie tot, tot! Wenn ich in den Staat eintrete, und sei es ins «Ministerium für unwichtige Angelegenheiten», muss ich klar haben, dass meine Funktion in diesem Ministerium ist, die ganze Macht dem Volk zu übergeben. Sonst verlier ich mich in diesem Meer. Denn dieses Meer offeriert Luxus, Vergnügen. Und hat vier Wände, die dich einschliessen. Und du meinst, da drin würdest du den Sozialismus aufbauen. Aber nein, du befolgst die Agenda des bürokratischen Staats. Also, ich denke, wir müssen auf zwei Ebenen präsent sein, eine für die Zerstörung und die andere für den parallelen Aufbau.

FS: Ich lass einen sehr guten Eintrag von dir in Facebook über die Parroquia (Gemeindebezirk), wo du viel Kritik am Staat geäussert hast in Sachen Bürokratie und lange Wartezeiten. Was glaubst du liegt dabei an Naivität (Unkenntnis der strategischen Rolle der Volksmacht) und was an Interessenkonflikten (Klassenkampf)?
GG: Das kommt drauf an. Im Wirtschaftskabinett geht es um Interessenkonflikte, denn da ist Geld im Spiel. Die Minister im Ökonomiebereich sind nicht naiv. Sie wissen von den Kommunen, sie wissen, dass Chávez dem Volk viel Land für die Produktion gegeben hat. Wenn sie beschliessen, sich nicht mit den Kommunen kurzzuschliessen, sondern die Grossunternehmen zu priorisieren, dann ist das nicht naiv. In anderen Fällen kann Unverständnis mitspielen. Wenn etwa eine Institution die Abgabe von Zuständigkeiten bremst, beim Transport, beim Wasser, bei irgendwelcher Dienstleistung, kann das daran liegen, dass sie nicht kapieren, dass das ein superwichtiger Schritt, ein qualitativer Sprung für den Aufbau des Sozialismus wäre. Viele Compas wissen das nicht. Die Regierungspartei hat nur minime Anstrengungen in der Schulung, in der Debatte über Sozialismus gemacht. Viele Funktionäre treten ihr Amt an und wollen die Geschäfte abwickeln. Nein, Mensch, du bist nicht da, um zu verwalten, du bist da für die Revolution. Und dafür musst du Macht ans Volk abtreten. Auf dem Wirtschaftsgebiet ist das völlig anders. Da gibt es Klassenkampf im ganzen Feld. Diese so genannte neue Bourgeoisie, die Boli-Bourgeoisie[5] etc. das ist für mich schlicht die Bourgeoisie. Da gibt es einen konstanten, offenen, entfesselten Klassenkampf.

FS: Die Kommune hat die strategische Aufgabe, den bourgeoisen Staat zu überwinden, aber heute wird der vom Chavismus geleitet. Das gibt eine Spannung. Einerseits musst du mit diesem Staat kämpfen, andererseits musst du ihn verteidigen. Denn wenn diese Leitung wegfällt, kommt etwas viel Schlimmeres. Wie seht ihr das?
GG: Ein Kumpel sagte: «Dieser Staat, sei er, wie er sei, ist eine Mauer.» Eine starke Schutzmauer, die es uns auf dieser – linken - Seite der Mauer erlaubt, aufzubauen, was wir aufbauen. Wenn Ziegelsteine aus dieser Mauer fallen, weil sie weich wird, muss man Zement einsetzen. Wie lange muss man die Ziegelsteine der Regierung einsetzen? Bis sie sehr weich wird. Solange, wie sie verhindert, dass man uns als Kommunarden tötet, dass die Polizei uns als Kommunarden fertig macht, muss man sie verteidigen. Denn wir wissen, dass sehr viele Dinge, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, es unter einer rechten Regierung nicht mehr sind. Dafür gibt es heute in ganz Lateinamerika Anschauungsunterricht. Und es ist auch kein Zufall, dass der historische Feind heute derart heftig angreift, wie das der nordamerikanische Imperialismus tut. Das hat seinen Grund. Natürlich wissen wir, dass einige Leute verhandeln, nun, einige Ziegelsteine fallen aus der Mauer, da muss man schauen, wie man das repariert.


FS: Chávez wollte die ganze Macht an die Kommunen übergeben, auch national. Die Macht hat viele Facetten, denken wir u. a. an drei zentrale: die Ernährungssouveränität, die Armee und die strategischen Wirtschaftssektoren. Wie verhalten sich die Kommunen dazu?
GG: In diesem Jahr haben wir beschlossen, uns in eine produktive Kommune zu wandeln, weg von einer bloss städtischen, die das Thema des Sozialen, der Gesundheit gut abdeckt. Wenn wir unabhängig sein wollen, müssen wir eine produktive Kommune sein. Wir haben vor, eine Reihe von Kulturen zu säen und vorallem eine Saatgutbank für die kommenden Jahre zu schaffen. Um nicht nur auf dem Territorium der Kommune anzupflanzen, sondern auch auf benachbarten Gebieten. So dass die ganze Bevölkerung Zugang zu diesen Nahrungsmitteln hat. Wir müssen begreifen: Die Kommune ist produktiv oder sie ist nicht. Was die strategischen Wirtschaftsbereiche betrifft, haben wir vor, uns an den Service public zu machen. So dass mindestens ein Service public unter Kommunenkontrolle steht.  Sammlung und Rezyklieren von Abfall, Wasser, Strom….
Vor allem in der Abfallentsorgung lassen sich vieler Ressourcen gewinnen, was heute im Kontext von Krieg und Blockade zwingend ist. Das ist strategisch. Es geht nicht nur um die Rettung der Welt, die auch ein Ziel des Plan de la Patria[6] ist, sondern schlicht um das Rezyklieren, sonst sind wir erledigt und müssen weiter importieren und importieren. Was den Bereich Sicherheit betrifft, haben wir ehrlich gesagt noch nicht wirklich daran gearbeitet. Klar, in der Kommune haben wir Milizionärinnen und Milizionäre. Aber wir haben kein «kämpfendes Korps der Kommune» geschaffen. Hier müssen wir behutsam vorgehen, denn wir wollen die Leute nicht erschrecken. Aber der Prozess ist nötig. In der Kommune kam es nur einmal, vor drei Jahren – wir waren noch nicht als Kommune konstituiert - zu einem wichtigen Protest. Da sagten wir: «Das wird nicht wieder vorkommen, hier wollen wir keine Guarimba.» Mit der Bildung der Kommune begannen wir, solchen Dingen vorzubeugen.

FS: Und die Armee lässt die Kommune machen? Lässt ihre Bewaffnung zu? Hilft dabei? Oder wie ist das?
GG: Ja. Das hat mit dieser Schutzmauer zu tun, von der ich sprach. Stell dir eine rechte Regierung vor und wir sagen, wir wollen ein bewaffnetes Korps aufstellen. In einer Minute werden wir aufgemsicht.

FS: Das Gesetz zur Volksmacht sagt in Artikel 3, dass ihre Entwicklung an das Niveau von Bewusstsein und Organisation der Bevölkerung gebunden sei. Wie sieht es damit aus?
Ich denke, das fängt beim Individuellen an. In der Kommune haben wir aktive Sprecherinnen und Sprecher, die ihr Leben dem Dienst an der Gemeinschaft widmen. Und einige (wenige) identifizieren sich nicht als revolutionär. Im Gegensatz zu der grossen Mehrheit, die das macht, weil sie den Prozess, in dem sie stehen, begreift. Ich glaube, in beiden Fällen wächst das Bewusstsein. Ich glaube, du bist bewusst in dem Mass, wie du dem andern hilfst. Weswegen sonst bist du auf der Welt? Um rumzustänkern? Denn wenn du alles auf dich beziehst, was kannst du dabei an Bewusstsein entwickeln? Null. Und nur, weil es solche Menschen in der Kommune gibt, weil das Bestandteil der venezolanischen Eigenart ist, ist die Revolution überhaupt möglich. Ohne diese Solidarität, dieses Zusammenhalten, dieses einander Unterstützen, wäre ein Revolution, wie Chávez sie formulierte, sehr schwierig.
Es gibt Leute, die einander einfach helfen, und es gibt Leute mit der Überzeugung, dass das der Weg ist. Und wenn das zusammenkommt, die Eigenart und das Bewusstsein, geht es voran mit der Volksmacht, mit den Consejos Comunales, den Kommunen, den Kollektiven. Einander helfen, das ist es. Schau, in Lídice gibt es jetzt Wasser in den unten gelegenen Zonen, alle Häuser dort dienen als Reservoir, und alle Welt legt einen Schlauch für die Nachbarn ein wenig weiter oben, wo das Wasser nicht hin kommt, damit die auch was haben. So geht das, bis Mitternacht, Kaffee wird gemacht, «hast du Wasser, bist du müde, fehlt dir ein kleines Fass?» Und das ist so, weil Chávez das Alltägliche betont hat, und was vorher aussergewöhnlich war, ist heute in der bolivarischen Revolution normal. Das Bewusstsein ist ein wichtiger Fakt, wenn es zum Streben nach der Kommune wird, schaffen wir Sozialismus. Denn die Eigenart, Idiosynkrasie, ist nicht mehr bloss Idiosynkrasie, sondern territoriales Projekt.

FS: Weltweit entwickelt sich eine starke feministische Revolution, die das Rollenverhalten, den Sexismus hinterfragt. Als wir in der Kommune waren, sahen wir, dass die Mehrheit Frauen waren, mit realer Macht. Was ist ihre Rolle in der Kommune?
GG: Ohne Frauen gibt es keine Kommune. Simpel. Die Mehrheit, wenn nicht alle Kommunen in Venezuela werden von Frauen geleitet. Sie sind es, die die politischen Veränderungen in diesem Land anstossen. In der Kommune praktizieren die Frauen den militanten Feminismus, aber vielleicht sind sie sich dessen nicht bewusst. Sie machen ihre Arbeit, stellen die Mehrheit in allen Versammlungen, Sitzungen, Instanzen. Aber viele von ihnen sind sich vielleicht der Wichtigkeit ihrer Rolle als Frauen in der Gesellschaft und in der Kommune nicht bewusst. Das zu ändern erfordert Arbeit, die Kenntnisse voraussetzt. Manchmal kommen feministische Strömungen von ausserhalb des Territoriums, um «die Frauen zu organisieren». Nein! Bring dich ein, versteh den Prozess, arbeite mit den Frauen, leide mit ihnen. Dann verstehst du ihre Situation, schlag etwas vor, mach Sachen möglich. Aber kommt nicht, um deine Ideen oder die deiner Gruppe aufzudrücken, weil du in Argentinien oder Chile gesehen hast, dass die Frauen die Dinge so und so machen. Nein, du musst schauen, wie das hier läuft, und dann entwickelst du Bedingungen, Philosophie etc. Nun, ich bin ja wohl auch nicht gerade das beste Beispiel, um feministische Prozesse anzustossen. Aber ich denke, dass die Frauen manchmal die Macht, die sie haben, nicht kennen.

FS: In seinem Golpe de Timón (Steuer herumreissen)[7] sagt Chávez, dass die Kommune keine sozialistische Insel in einem kapitalistischen Meer sein kann, weil sie sonst vom Meer verschlungen wird. Wie sieht es mit der Verbindung unter den Kommunen aus?
GG: Wir arbeiten jetzt daran. Ich denke, wir sind auf gutem Weg, angesichts unserer kaum zweijährigen Existenz. Jetzt sind wir gerade daran, besonders im Bereich Nahrungsmittel, mit anderen Kommunen wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen. Damit die Kommune wie ein Staat ist, der Nachbarländer unterstützen kann. Mit den Tonnen von Kartoffeln, die wir vor zwei Wochen brachten, konnten wir auch umliegende Consejos Comunales billig beliefern. Das Gleiche haben wir auch mit anderen Nahrungsmitteln vor. Wir wollen uns auch für die Bildung weiterer Kommunen in unserer Parroquia einsetzen, denn jetzt sind wir in ganz La Pastora die einzige. Wir sind allein am Rudern in diesem Meer. In diesem Kontext, wo die kommunale Macht zurück gegangen ist, müssen wir wenige, die an diese Idee glauben, uns zusammentun. Wir müssen vorwärts machen.

FS: Wie sollte die Lage in zehn Jahren sein, wenn alles gut läuft?
GG: Und jetzt soll ich weinen (Lachen)? Also, mir würde gefallen, dass es mindestens in ganz Lídice Kommunen gibt. Zweitens, dass alle Organe der Selbstregierung funktionieren, und zwar gut, nicht als Kopie des alten Staates. Drittens, dass wir unabhängig wären. Das ist der Schlüssel. Chávez sagte das. Wir müssen dafür sorgen, dass eine territoriale Kommune für Unabhängigkeit kämpft. Wie sie den Service public, ihre produktive Ökonomie, ihre soziale Dynamik organisiert, wie die Beteiligung an allen Kommunenwahlen mindestens 60 % erreicht. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die Leute nicht nur wählen, sondern mitmachen. Dafür braucht es neue Räume.
Ich glaube, damit die Kommunen zukünftig regieren, müssen sie sich der Zukunft annähern. Denn wenn sie wie die sowjetischen Kommunen denken, sind wir erledigt. Wir haben heute Handys, und die Jungen kommunizieren heute schon fast mehr damit als von Angesicht zu Angesicht. Das ist die Zukunft, also los. Müssen wir ein Social-Media-Netzwerk schaffen? Dann schaffen wir es. Neue Formen der Interaktion? Wir müssen sie schaffen. Wir können nicht beim Papier bleiben, beim Anschlag an der Wand. Viele Compas sehen das mit Befürchtungen. Für sie ist die Schaffung eines Cafés für die Millennials, das anders ist als die von früher, nebensächlich. Aber mit welcher Bevölkerung kann die Kommune in den nächsten zehn Jahren zählen, wenn wir diese Altersgruppe nicht einbeziehen? Als Maduro das Carnet de la Patria[8] lancierte, machte mich das etwas wehmütig. Denn in meinen Augen hätte die Kommune diese Möglichkeiten der Technologie und der Beteiligung für eine mehr territoriale Benutzung ausschöpfen sollen. Klar, Maduro macht das auch, um den bourgeoisen Staat umgehen zu können, um via Technologie direkter an die Leute gelangen zu können.

FS: Was du sagst, erinnert mich an das, was einer eurer Nationalhelden Unseres Amerikas gesagt hat: «Wir erfinden oder wir scheitern.» Also nicht alte Formen kopieren. Willst du noch was sagen?
GG: Die aktuelle Lage für die Kommunen ist sehr komplex. Wir kämpfen an drei Fronten: mit den der Kommune eigenen Problemen; im Krieg, mit dem alle Venezolanerinnen und Venezolaner konfrontiert sind; und im Konflikt mit dem bourgeoisen Staat, der sich fort zu verschärft und schwieriger wird. Was tun, um nicht zu verschwinden? Die Kommunenbewegung muss sich neu erfinden, muss wieder Bewegung sein. Heute haben wir keine Bewegung, wir sind isoliert. Wir müssen uns bewegen, damit der Staat weiss, dass es uns gibt. Die Zukunft, die wir uns über den Krieg hinaus vorstellen, ist sie mit dem Staat möglich? Und ich beziehe mich nicht auf den bourgeoisen Staat als philosophisches Phänomen, sondern konkret auf die derzeit Regierenden. Die Treffen mit dem Präsidenten folgen bisher einer gleichen Logik: Sie treffen sich mit den Kommunarden während zwei oder drei Tagen, ein 20-seitiges Papier wird verfasst, es wird dem Präsidenten übergeben. Der hat dann seine Agenda, für die er drei Punkte übernimmt, alle anwesenden Kommunarden klatschen, gehen heim und warten auf das nächste Treffen. Nein, so geht das nicht! Wenn Chávez sich mit den Kommunarden traf, gab es eine Debatte, jeder konnte ihm ein paar Dinge entgegensetzen, und er sagte ja zu diesem oder nein zum andern. Aber es war eine Debatte, kein formeller Akt. Die sind nichts für die Kommunen, mit ihnen musst du politisch diskutieren. Denn das sind die Leute, mit denen du den Sozialismus aufbaust. Mit welchem anderen Subjekt machst du das? Dieses hast du im Territorium. Egal, ob jung, Frau, schwarz, weiss, braun, katholisch, protestantisch, was immer. Sache ist, dass die Dinge sich immer mehr verwischen und, und wir erneut in den Staat verfallen mit seinen grossen Politmassnahmen auf nationaler, aber nicht auf territorialer Ebene. Zu diesem Punkt der Komplexität herrscht wohl Einigkeit, wir leiden alle an ihr, wir kritisieren sie alle, wir beschreiben sie alle, aber darüber hinaus läuft nichts. Wir müssen zusammenkommen, einen Raum für Debatte und Umsetzung, für seriöse Vorschläge schaffen. Wenn das nicht möglich ist mit den angeblich tausend Kommunen, dann mit den dreissig, die das wollen. Wir getrauen uns, etwas anderes vorzuschlagen. Das ist die Herausforderung.
·         La Iguana TV, 19.4.19: La Comuna es la Célula territorial del Socialismo. 






[1] Früher Minister für Kommunen, heute Mitglied der Verfassungsgebenden Versammlung.
[2] Territoriale Dachorganisation mehrerer kleinräumigerer Consejos Comunales, Basisorganisationen in der Nachbarschaft.
[3] Chávez begann 2003 die ersten Misiones primär für Sozialprogramme ausserhalb der Ministeriien zu lancieren.
[4] Populärer Leader einer ruralen Kommune. 2017 wurde sseine Kandidatur als Bürgermeister unter fadenscheiniger Begründung verweigert. Er wäre, von kleinen Linksparteien unterstützt, gegen den Kkandidaten der Regierungspartie angetreten. Prado ist weiter in der Kommune und in der Verteidigung Vebnezuelas engagiert.
[5] Bolivarische Bourgeoisie.
[6] Noch von Chávez präsentierter Entwicklungsplan 2013-2019.
[7] Von Chávez im Oktober 2012 an einer vom TV übertragenen Kabinettsitzung postulierte Politik der entschiedenen Hinwendung zur Basis-kontrollierten Ökonomie.
[8] Eine Chip-Karte mit Einkommensdaten der Besitzerin, gebraucht vor allem für die Abwicklung der Sozialprogramme, auf die auch monetäre Staatsleistungen übertragen werden.