(zas, 27.5.16) Wer den Fehler
macht, die Zeitung aufzuschlagen oder die Tagesschau zu konsumieren, bekommt,
was Venezuela betrifft, die Botschaft von der „humanitären Krise“ vermittelt,
von den enormen Warteschlangen für Artikel des Grundbedarfs und einem
zusammenbrechenden Gesundheitssystem, erzeugt von chavistischer
Misswirtschaft. Gegen die sich an die Macht
klammernden Chavistas regt sich demokratischer Widerstand, der zunehmend
brutaler unterdrückt wird. Internationale Hilfe wird ein Thema. In der New York
Times, im Guardian, im Wall Street Journal jagen sich Berichte, die eines klar
machen: Auf der Erde gibt es eine Hölle, sie heisst Venezuela. Die Artikel
haben ein gemeinsames Merkmal: Sie triefen von Hass. Die chavistische Ungeheuerlichkeit,
für die Unterklassen ein gutes Leben anzustreben, soll ausgemerzt werden.
Wirtschaftskrieg
Kein Bier in der Hölle
Vor kurzem kam
auf der halben Welt die Nachricht: Jetzt müssen die VenezolanerInnen selbst auf
ihr Bier verzichten. Das Unternehmen Polar, das 80 % des nationalen Bierkonsums
abdecke, sehe sich ausserstande, weiter zu produzieren. Denn, so Polar-Eigentümer
Lorenzo Mendoza, die chavistische Regierung verkaufe ihm keine Dollars mehr, um
die ausländischen Lieferanten zu bezahlen. (Die Deviseneinnahmen des Landes stammen
fast zu hundert Prozent aus dem staatlichen Ölexport. Der Privatsektor erwirbt
vom Staat für seine Importe sündhaft billige Dollars für 6.3 Bolívares pro
Dollar, der auf dem Schwarzmarkt mehr als 1000 Bolívares kostet.) Nun, von Januar 2004 bis Dezember 2012
hatte Mendozas Polar-Gruppe (Alimentos Polar, Provencesa, Pepsico Venezuela,
Cervecería Polar) vom Staat fast $ 3 Mrd. erhalten – für Importzwecke. Für die
Periode von Januar 2014 bis September 2014 schüttete der Staat Polar über $ 450 Mio. für den gleichen
Zweck aus. Allein Cervecería Polar (die Bierbrauerei) kommt auf $ 700 Mio. in
den genannten Zeiträumen.
Im Herbst 2015 liess
Mendoza einige Angestellte öffentlich von der Regierung verlangen, sie solle $
18 Mio. Schulden begleichen, die Polar bei ausländischen Lieferanten habe, ansonsten
seien ihre Arbeitsplätze gefährdet. Im Oktober 2015 kaufte er das
grosse Migurt-Unternehmen des Pascual-Konglomerats in Spanien. Am 31. März 2016
schrieb die chavististische Noticias24: „Fran Quijada, Präsident der nationalen
Gewerkschaft [im Getränkesektor] bestätigte am 10. März in einem
Fernseh-Interview, dass das [Polar-] Konsortium ‚mit den Dollars, die es in
Venezuela erhielt, in Tampa, USA, gerade ein Malz- und Gerstenunternehmen
gegründet hat‘“.
Die staatlichen
Importdollars sind jetzt zurückgegangen – die Ölpreiskrise lässt grüssen. Um 65
% im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr, sagen rechte venezolanische Medien, die
sich auf (für mich unauffindbare) Berichte der Devisenbehörde Cencoex berufen. Doch
Lorenzo Mendoza, Dauergast auf der Forbes-Liste der Superreichen und am WEF in
Davos, der 2002 begeistert den Militärputsch gegen Chávez unterstützt hat, klagt
schon lange über mangelnde Importdollars. Seine „Produktionsprobleme“ (nicht
nur im Bierbereich) fallen seit Ende 2012 auffallend mit zugespitzten
politischen Konfrontationsphasen zusammen. Das hat etwa die Zeitung Ciudad CCS beschrieben:
„Laut Berichten des Unternehmens über
seine Produktionsniveaus zwischen Januar 2012 und Januar 2016 lässt sich
unerklärlicherweise darstellen, dass die Produktion jeweils [parallel zu
Politereignissen] abrupt einbrach, etwa nachdem Hugo Chávez am 8. Dezember 2012
seine letzte Botschaft an die Nation richtete [eine faktische
Todesankündigung]; Tage vor den Präsidentschaftswahlen vom 14. April 2012,
während der guarimbas2014 [Strassenunruhen
für Regierungssturz] und vor den Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2015.“
Das neue Haupt der Hydra
Mit der 2003 von
Chávez gegen eine eskalierende Kapitalflucht eingeführten Devisenkontrolle kam
der Wirtschaftsaufschwung. Ab 2004 verfolgte Chávez die Politik eines Paktes
mit der "nationalen Bourgeoisie": Für reichliche und billige
Importdollars sollte der Privatsektor einen Teil der Gewinne in den Aufbau
einer nationalen Produktionskapazität (weg vom Öl!) stecken. Die auf die
Ölrente ausgerichtete Wirtschaft konnte den nationalen, mit der chavistischen
Steigerung der Unterklasseneinkommens noch gewachsenen Bedarf an Konsum- und
Investitionsgütern nicht abdecken. 2012 erhielt der Privatsektor für die
Einfuhr von Waren und Dienstleistungen $36 Mrd. Vergebens warnte die damalige
Zentralbankpräsidentin Edme Betancourt, von den staatlichen Importdollars
gingen mindestens $20 Mrd. an Phantasieunternehmen, gegründet mit dem Ziel, an
staatliche Importdevisen heranzukommen. Für die realen Importgeschäfte reichten
also $16 Mrd. Im ersten Halbjahr 2013 erhielt der Privatsektor Dollars allein
für die Gütereinfuhr von $15 Mrd., ungefähr so viele wie er im ganzen Vorjahr
dafür eingesetzt hatte Wieso also soll die ab 2012 massiv einsetzende Inflation
mangelnder Dollarverfügbarkeit geschuldet sein?
Dieses Auseinanderklaffen zwischen Praxis
und angeführten ökonomischen Erklärungen ist ein zentrales Merkmal der
Entwicklung, das die Ökonomin Pasqualina Curcio letzten Dezember im Papier Desabastecimiento e inflación en Venezuela analysiert hat.
Sie unterwirft die gängigen Herleitungen von Unterversorgung, Teuerung und
Wechselkurs einem statistischen Faktencheck. Und kommt zum Ergebnis: „Die Unterversorgung (…) ist nicht einem Rückgang der Produktion
geschuldet - die Produktionshöhe, gemessen im Bruttoinlandprodukt BIP und im Agrar-Bruttoinlandsprodukt
BIPA, nahm von 2003 bis 2013 um 75 % bzw. 25 % zu (…). Sie ist auch nicht einem
Rückgang der Importe geschuldet - diese haben, in US$ gemessen, von 2003 bis
2013 total um 388.9 % und im Agrarbereich um 571 % zugenommen. Sie wird auch
nicht dadurch verursacht, dass die Regierung dem Privatsektor zu wenige Devisen
übergegeben hätte - diese stiegen von 2003 bis 2013 um 442 %. Auch eine relativ
starke Zunahme des Konsums erklärt die Unterversorgung nicht - der Konsum der
Haushalte und der Regierung sowie des intermediären Sektors hat zwar um 83 %
zugenommen, aber weniger als die Gesamtproduktion plus Importe.“
Curcio legt dar,
dass der aus monatlichen Erhebungen in 27‘000 Verkaufsstellen erstellte Mangelindex
nicht, wie zu erwarten wäre, mit einem sinkendem BIP und/oder Importrückgang stieg
oder umgekehrt. 2006 und 2007 stiegen der Mangelindex, aber auch die
Produktion; dito 2011. Dafür sank die Unterversorgung von 2008 bis 2011 trotz
BIP-Rückgang. Ähnlich „Unerklärliches“ belegt sie im Vergleich
Mangelindex/Importe. „Deshalb ist das
Argument von Oppositionssektoren falsch, wonach die Unterversorgung in
Venezuela wegen eines Importrückgangs aufgrund mangelnder Devisenbereitstellung
durch die Regierung existiert.“ Letztere
stieg ja, wie erwähnt, von $ 305.7 Mrd. im Jahr 2003 um 442 % auf $ 30‘859 Mrd.
zehn Jahre später. Dafür hängt der Mangelindex mit politischen Ereignissen
zusammen, wie die Grafik zeigt:
Kurz, alles
anders als stets von den Rechten und der orthodoxen Wirtschaftslehre behauptet. Dafür benennt die Wirtschaftsdozentin
andere Quellen der Unterversorgung: Horten und Schmuggel, aber vorallem, dass die Kosten pro importiertem Kilo von 2003 bis
2013 von $ 0.83 auf $ 2.34 wuchsen. Es wurden also viel mehr Importdevisen exportiert als entsprechend
Güter importiert. Wohin gingen die Dollars? Im Zeichen der internationalen
Handelskrise nicht in fast dreifach höhere Preise. Dafür in die „zunehmenden Depositen des Privatsektors im Ausland.
Man kann [aus der Statistik] ersehen, wie diese Gelder von 2003 bis 2013 um
232.8 % zugenommen haben.“ Kapitalflucht also dank billigst erworbener
staatlicher Importdollars, die Hydra hat ein neues Haupt.
Die
effiziente Kunst der Sabotage
In einem Papier
vom letzten April (La mano visible del mercado)
zeigt Pasqualina Curcio, dass insgesamt die Produktion und der Import von
Grundnahrungsmitteln von Januar 2012 bis Dezember 2015 gleich blieben. In den Unterklassen
geändert hat sich dagegen die Art, wie die Leute allenfalls zu ihren Kalorien kommen:
mit langem Schlange stehen, mit dem Bezahlen exorbitanter Preise auf dem
Schwarzmarkt, wo die produzierten und die mit Billigstdollars erworbenen importierten
Güter zu einem beträchtlichen Teil landen.
Damit kommen wir zur enormen Teuerung von 181
% letztes Jahr. Sie Inflation erklärt sich, wie wir gesehen haben, weder aus überbordender
Nachfrage noch aus mangelnden Importdevisen. Auch nicht, wie oft behauptet, aus
abstürzenden Dollarreserven. Die blieben von 2002 bis 2014 relativ konstant. Curcio sieht
eine andere Ursache: „Im
Untersuchungszeitraum variiert die Inflation in Venezuela zu 73 % im Einklang
mit dem Dollarkurs auf dem Parallelmarkt“. Sie kommt zum Schluss: „Aufgrund
der bisherigen Resultate können wir sagen, dass der Wert des Wechselkurs im
Parallelmarkt, der täglich aktualisiert und auf einer Webpage publiziert wird,
keine Beziehung mit dem Rest der ökonomischen Variablen aufweist. Ein Wert, der
nicht nur die Transaktionen im Devisenparallelmarkt bestimmt, sondern auch zur
Preisfestsetzung dient.“ Gemeint ist die
in den USA beheimate Dolar Today- Webpage, die nachweislich den
Schwarzmarktkurs des Dollars völlig losgelöst von irgendwelchen
wirtschaftlichen, nicht aber politischen Variablen festsetzt. Sie wird vom
transnationalen Herrschaftsapparat und der venezolanischen Rechten zur
ultimativen Quelle der Marktwahrheit gemacht (s. Wirtschaftskrieg gegen die
kollektive Psyche). Die realen Konsumpreise richten sich hauptsächlich
nach dem Tageskommando von Dolar Today!
In ihrem neuen
Papier schreibt Curcio: „Seit 2013
manifestiert sich die Unterversorgung gleichzeitig und bei den meisten
Grundbedarfsartikeln, bei denen, die für die Haushalte die grössten Kosten
verursachen und gleichzeitig sehr nötig und kaum zu ersetzen sind:
Nahrungsmittel; Hygienemittel für den Eigengebrauch und den Haushalt; Autoersatzteile,
was den Transport erschwert; Medikamente und Medizinalgüter, was die
Gesundheitsversorgung erschwert (…). Die grossen Handelsanbieter der Grundbedarfsgüter
sind gleichzeitig ihre grossen und wenigen Produzenten.“ Eine über die
Verteilung gesteuerte Wirtschaftssabotage kann, so ihre Erläuterung, deshalb
relativ einfach organisiert werden, dies umso mehr, als die Waren letztlich ja
verkauft werden, also dem Kapital keine Verluste entstehen.
Markttricks
Zum
Wirtschaftsalltag gehören solche Dinge wie dass gewisse Produkte, etwa das Maismehl
für die omnipräsente Arepa, zu 50 % von Polar hergestellt, zwar oft im Haushalt
fehlt, aber nie im verarbeitenden Gewerbe. Nur in der Haushaltküche wird es
rar. Ein anderes oft wiederkehrendes Moment ist jenes, das letzten März Gewerkschafter
von Colgate Palmolive kritisiert haben. Statt den in
vielen Haushalten unentbehrlichen Weichspüler Sofián wie bisher in 140‘000
verschieden grossen und teuren Einheiten zu produzieren, beschränkt sich
Palmolive jetzt auf 5000 Grosspackungen, für viele unerschwinglich. Das gleiche
Muster wendet das Unternehmen beim Abwaschmittel Axion und den Reinigungsmitteln
ABC und Ajax an. Gewerkschafter Félix Bello kommentiert: „Die grossen Unternehmen haben nie Verluste eingefahren. Die
getroffenen Managemententscheide sind weder administrativ noch mit
Kostenfaktoren begründet. Es gibt ein Interesse, die Regierung Maduro über eine
geplante Unterversorgung und das dadurch hervorgerufene Malaise der Konsumenten
anzugreifen.“ Wenige Tage später sprechen die Gewerkschafter
über eine andere Mangelware: „Die
Zahnpasta wird es nicht mehr geben, weil die Produktionslinien gestoppt sind.
Angeblich aus Mangel an Ausgangsmaterial, das jedoch für die Grossverpackungen
vorhanden ist.“
Das Verbrechen im Gesundheitsmarkt
Nicht nur der
Hustensirup, auch das Krebsmittel fehlt oft, Menschen leiden und sterben. El
Universal zitierte am 16. Januar 2016 Freddy
Cervallos, Präsident des Pharma-Unternehmerverbands Fefarven: „Die nationale Regierung muss akzeptieren,
dass wir eine humanitären Krise im Gesundheitsbereich haben; im ganzen Land
sterben Patienten wegen Medikamentenmangel“. 2014 hätte die Regierung nur
25 %, 2015 gar weniger als 20 % der benötigten Importdevisen locker gemacht.
Fefarven ist faktisch die Dachorganisation von Pharmamultis, die nationale
Branche mixt entweder importierte Substanzen zu Pastillen oder verpackt
Importe. Pfizer gab im Juli 2015 bekannt, wegen fehlender Importdollars ihre
Produktion auf 7 Medikamente einzuschränken. Der US-Multi hatte allein in den
ersten neun Monaten von 2014 105.9 Mio. Billigstdollars erworben. Im gleichen
Zeitraum hatte Merck, die ebenfalls ihre Produktion wegen „mangelnder Devisen“
drosselt, praktisch die gleiche Summe eingestrichen; Bayer $ 126. Mio., Abbott
$ 136.4 Mio. und Novartis $ 78 Mio. (alle Zahlen von der Devisenbehörde Cencoex). Novartis gab sich jüngst als Opfer
chavistischer Machenschaften, man habe sich wie Sanofi und Bayer mit auf dem
Markt minderwertigen Pdvsa-Bonds statt feiner Dollars abspeisen lassen müssen.
Der
ehemalige Gesundheitsminister Henry Ventura erklärte in einem Interview Anfang März 2016: „Im Jahr 2012 erhielt die Pharmabranche $
3.41 Mrd., und sie importierte bloss 55.7 Mio. Kilos. 2003 gaben wir ihr $ 434
Mio. und sie importierte fast 221 Mio. Kg.“ Die gezielte Verminderung der
verfügbaren Medikamente begann, bevor die 2015 durchschlagende Ölpreiskrise die
Importdollars drückte.
Im Oktober 2014 beschlagnahmte die
Regierung in zwei Lagerhallen im Staat Aragua gehortetes pharmazeutisches und
chirurgisches Material, das laut Regierungsangaben dem Land für ein ganzes Jahr
gereicht hätte. Die Besitzer waren Mitglieder im Branchenverband. Staatspräsident
Maduro sagte: In einer Riesenhalle „beschlagnahmten wir 5000 Rollstühle, 14
Millionen Spritzen, 2,2 Millionen sterile Handschuhe und 7.6 Millionen
Einweghandschuhe (…). Sie erzählen
die ganze Zeit, die Regierung gebe ihnen kein Geld, und hier haben wir die
Eigentümer dieses Unternehmens. [Sie] erhielten während der letzten 10 Jahre $
236 Mio.“ an Importdollars.
Die Lagerhalle und die Medikamente. |
In Zulia fanden die Behörden im Mai 2015 fast
15 Mio. verfallene Medikamente. Seit 2009, erklärte Preisüberwacher Andrés
Eloy Méndez, erhielt „dieses Unternehmen
mehr als $ 4 Mio. für den Kauf dieser so wichtigen Medikamente“. Darunter,
so Méndez weiter, befanden sich „1.08 Mio. Einheiten verfallenen Vitamins
B12 und weitere 1.9 Millionen verbrannte Einheiten, 2.5 Mio. Diclofenac-Pillen,
3 Tonnen Ampicilin und mehr als 60‘000 weitere in Venezuela andauernd benötigte
Medikamente. Es macht traurig zu wissen, dass dieses Unternehmen die
Medikamente hortete, als letztes Jahr beim Ausbruch des Chikungunya-Fiebers
viele VenezolanerInnen wegen des Mangels an Vitamin B12, einem wichtigen
Medikament zur Bekämpfung des Virus, starben.“
Der Sekretär der Gewerkschaft bei Pfizer,
Alí Mora, kritisierte letzten April, dass
Pfizer nur noch 2 Produkte herstelle, beide auf der Basis von Acetaminophen (wie
Panadol): „Die helfen nicht gegen
chronische Erkrankungen, die Priorität haben sollten“. Der Gewerkschafter
betonte weiter, dass Pfizer die Produktion im Land zugunsten der Einführung von
in ihrer Mehrheit nicht-prioritären Medikamente herunterschraube. Dies täten,
fasst der Bericht von Radio Mundial eine Aussage von Ex-Gesundheitsminister
Ventura zusammen, auch Merck und Bayer, weil sie damit mehr Kasse machen
könnten.
Humanitärer
Interventionismus
Das Südkommando und sein Gehilfe
Die beschriebenen
Sabotagemomente erklären die aktuelle Wirtschaftssituation nur zum Teil. Sie lassen
immerhin die argumentative Luft aus dem Diskurs von der humanitären Krise wegen
sozialistischer Misswirtschaft. Deswegen werden sie unterschlagen. Denn der
Sturz der Regierung Maduro steht auf der Tagesordnung. Der seit der Krankheit
von Chávez intensivierten nationalen und internationalen
Destabilisierungskampagne hat sich mit dem massiven rechten Sieg bei den
Parlamentswahlen vom 15. Dezember 2015 ein Zeitfenster aufgetan für die
Rückkehr der US-treuen Oligarchie an die Regierung.
Das Fanal setzte John Kelly, Chef Südkommandos der USA gegen
Lateinamerika, in einem CNN-Interview vom 28. Oktober 2015: Er bete jeden Tag
dafür, dass Venezuela wegen seiner enormen wirtschaftlichen Probleme nicht
kollabiere. Im Falle einer dadurch bewirkten „humanitären Krise […] könnten wir reagieren und täten dies via
Organisationen wie die UNO, die OAS oder die FAO.“
Kelluy im CNN-Interview |
Das tun sie auch.
Derzeit am sichtbarsten mit ihrem Laufburschen im Generalsekretariat der
Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Luis Almagro. Dieser Tage will
Almagro, der frühere Aussenminister des uruguayischen Präsidenten Pepe Mujica,
dem OAS-Rat (BotschafterInnen) einen Bericht zu Venezuela vorlegen, der den Weg
zur Aktivierung der „Demokratieklausel“ (Art. 20) der OAS gegen Venezuela
öffnen soll. Art. 20 sieht Sanktionen gegen Mitgliedsländer vor, in denen die „demokratische Ordnung gravierend
beeinträchtigt“ wird. Stimmen die BotschafterInnen mehrheitlich zu, können
sie „diplomatische Initiativen“ entfalten. Bei deren Scheitern geht die Sache
an die AussenministerInnen, die zu zwei Dritteln Sanktionen bis zur
Mitgliedschaftssuspendierung zustimmen müssen. Begründung: Seit dem rechten
Parlamentssieg fege Maduro noch die letzten Reste der demokratischen
Gewaltenteilung vom Tisch. So habe „sein“ Oberstes Gericht etwa das totale
Straffreiheitsgesetz („Amnestiegesetz“) der Parlamentsmehrheit für alle
antichavistischen Morde und sonstigen Verbrechen nicht gegen das Präsidialveto
gedeckt, dafür aber sein Vollmachtendekret zur Bekämpfung der
Wirtschaftssabotage. (Weniger betont wird derzeit, dass das Gericht etwa die
von der parlamentarischen Rechten verfügte Privatisierung der Sozialwohnungen
unterband.) Zentral im Moment: Maduro verschleppe das Abberufungsreferendum,
das, falls dieses Jahr abgehalten und mit einem Sieg für die Rechte endend,
zwingend Neuwahlen nach sich ziehe.
Almagro erhielt
am 19. Mai dieses Jahres Besuch von einer MUD-Delegation, die ihn bat, die
OAS-Demokratie-Klausel gegen Venezuela zu aktivieren. Der Mann machte aus
seinem Herzen keine Mördergrube, als er in einem Brief vom 18. Mai Maduro als
Dieb am Reichtum seines Landes bezeichnete. Er kommt aus der uruguayischen
Rechten, wurde wegen seiner internationalen Handelskenntnisse unter Mujica
Aussenminister (und betrieb hier den geheimen, seither aufgehobenen Beitritt
zur hermetisch abgeschirmten TISA-Verhandlung). Wegen seines wütenden
Antichavismus hatte sich Mujica schon vor Monaten von ihm scharf distanziert. Am
Rande des sogenannten Concordia-Gipfels in Miami, ausgerichtet vom Council of
the Americas, dem Spitzenverband von in Lateinamerika aktiven US-Multis, forderte der ehemalige
kolumbianische Präsident Álvaro Uribe am 13. Mai 2016: „Die venezolanische Armee muss die Opposition beschützen … oder lasst uns überlegen … nur überlegen …
welches Land bereit wäre, seine Streitkräfte für die Verteidigung der
Opposition zur Verfügung zu stellen. Vorsicht … Tyrannei hört nicht auf Worte …
Sie müssen mit all unserer Energie bekämpft werden.“
Der
kolumbianische Massenmörder gehörte mit anderen Ex-Staatspräsidenten wie Aznar
(Spanien), Quiroga (Bolivien), Pastrana (Kolumbien) oder Fox (Mexiko), die
einen gemeinsamen Aufruf gegen Venezuela verfassten, zu den bekannten Rednern
am Concordia-Gipfel. Mit dabei in Miami: Almagro.
„Sanfter Putsch“, Paramilitärs, syrische
Verhältnisse?
Doch dies ist nur
ein Ausschnitt aus einem Szenarium, das Obama Anfang März mit der erneuten Erklärung Venezuelas zur „ausserordentlichen
Bedrohung“ für die USA festgeklopft hat. Die US-Medien sind voll mit „Insiderinfos“
von Putschbestrebungen in Venezuela (dargestellt als demokratische Rettung).
Das Wall Street Journal schrieb beispielsweise am 13.
Mai 2016: Zwei US-Geheimdienst-Offizielle mit Lateinamerika-Erfahrung „sagten, dass sie und andere in der
Geheimdienst-Community glauben, dass Nicolás Maduro seines Amtes enthoben
werden könnte, entweder durch einen ‚Palastcoup‘ von ihm nahen Verbündeten oder
durch einen Armeeaufstand. Sie sagten, die Möglichkeit eines Sturzes oder von Strassengewalt
besorge amerikanische Offizielle, die eine Anarchie im ölreichen Land, das nur
drei Flugstunden von Miami entfernt sei, verhindern wollen“.
Die Botschaft ist
klar: Der Chavismus muss weg, möglichst auf eine Weise, die seine Basis
demoralisiert und von Widerstand abhält. Erfreulich wäre da natürlich eine
reale Spaltung in den Streitkräften – für die Chavistas ist die
„militärisch-zivile Einheit“ seit Chávez ein wichtiges Moment. Hier ist auch
die internationale Kampagne zu verorten, die praktisch täglich darüber
mutmasst, ob und wann die Armee Maduro stürzt. Und dito die ganze Kampagne, die
den Status Quo als eine immer offenere Militärdiktatur darstellt. Zunehmend in
den Fokus geraten dabei die bolivarianischen Milizen, ein Bindeglied zwischen
Armee und chavistischen Basisstrukturen, die durchaus im Fall einer offenen
militärischen Auseinandersetzung ein Machtfaktor sein können. Uribes Forderung
nach einer offenen ausländischen Militärintervention dürfte vorderhand kaum tel
quel umgesetzt werden, sie dient aber dazu, einen Putsch „zugunsten der
Demokratie“ und eine Stärkung der paramilitärischen Elemente in Venezuela zu
promoten.
Mitglieder der bolivarianischen Miliz. Quelle: Misión Verdad. |
Paramilitärische
Strukturen, die allerdings einige Rückschläge zu verzeichnen haben. Am 6. Mai
gelang es den Sicherheitskräften, die Organisation des früheren kolumbianischen
Paras „El Topo“ im Minengebiet von Guayana zu zerschlagen, die dort ein
veritables Terrorregime installiert hatte und Regierungsbestrebungen für einen
angeblich umwelt- und menschengerechten Bergbau zwecks Wirtschaftsankurbelung neutralisierte.
Vielleicht noch wichtiger die Zerschlagung der paramilitärischen Struktur von „El
Picure“ im Staat Gúarico am 10. Mai 2016. Dort, wo eine Reihe trans/nationaler
Ernährungsunternehmen wie Polar, Kellogg’s, Cargill, Heinz oder Nestlé eine
starke Präsenz haben, und wo wichtige Handelsrouten aus der Landwirtschaft in
die Bevölkerungszentren verlaufen, schien der Staat lange unfähig, den Paras wirksam
entgegenzutreten. Zwei Operationen, die vermutlich im Fall eines eskalierenden
Konflikts dem Gegner wichtige Basen für (para)militärische und
Wirtschaftssabotage wegnahmen, wie Misión Verdad analysierte.
Eliteeinheiten gegen Paras. Bild: Misión Verdad |
Diese chavistische Webseite stellt den paramilitärischen Aufmarsch in diesen
Wirtschaftszonen in direkten Zusammenhang mit einem am 10. April 2016 von ihr publizierten Dokument, das
angeblich vom Kommandant des US-Südkommandos verfasst wurde und den
politisch-wirtschaftlich-zivilen-militärischen Angriff auf Venezuela unter
seinem Kommando darstellen soll. Zweifel an der Authentizität dieses Papiers
sind erlaubt. Das Portal gibt keine Quelle an, die Lektüre erweckt den
Eindruck, dass das Dokument reale Dynamiken zu einem Statement der US-Armee
zusammenfasst. Etwas seltsam ist allerdings, dass die rechten venezolanischen
Medien im Gegensatz zu den chavistischen dazu kein Wort verlieren, genau so
wenig wie offenbar das Südkommando selber.
Kürzlich
hatte Maduro eine vom Obersten Gericht abgesegnete Verlängerung eines
Notstandsdekrets beschlossen, das sinnvolle
Elemente zur Bekämpfung der Wirtschaftssabotage aufweist und deshalb von
der Rechten natürlich als diktatorische Massnahme dargestellt wird. Henrique
Capriles, einer der Oppositionsführer, sieht in einem BBC-Interview vom 20. Mai 2016
deshalb einen Armeeputsch, „in der Luft
liegen“. Die Armee sei gespalten. Die Rechte wolle natürlich keinen Putsch,
sondern bloss, dass die Armee „von Maduro
verlange, dass er die Verfassung respektiere“ – mit Verweis auf das
Abberufungsreferendum. Am gleichen Tag sprach David Smolansky, rechter
Bürgermeister der Reichengemeinde El Hatillo am Rande von Caracas, von „tausenden von Toten“, wenn die
Regierung weiter repressiv vorgehe. Er wusste auch diese Erkenntnis
beizusteuern: „Was heute in Venezuela
geschieht, gleicht den Vorgängen in Syrien“. Freude hat der Rechtsradikale
dafür an der „entschlossenen Haltung“
von OAS-Generalsekretär Almagro.
Die chavistische Seite der Krise
Vor wenigen Tagen
erhöhte die Regierung Maduro Preise einer Reihe von Grundbedarfsartikel, die
fortan die produzierenden Unternehmen verlangen können. Von regierungsnaher Seite
wird argumentiert, die Preise lägen nach wie vor auf sehr tiefem Niveau im
Vergleich zum Schwarzmarkt, auf dem sich auch die Unterklassen gezwungenermassen
versorgen. Sie ermöglichten jetzt aber den Unternehmen, gewinnbringend zu produzieren.
Denn in einigen Fällen seien die regulierten Höchstpreise unter den
Produktionskosten gelegen. Die Massnahme sei als erster Schritt zur Aufhebung
des Systems günstiger Regierungsdollars für die Einfuhren zu sehen. Mittelfristig
würde dies zu einer spürbaren Beruhigung im Versorgungsbereich führen und die
Staatskasse massiv entlasten. Zwei Gefahren gelte es aber zu beachten: die
Unternehmen könnten trotz Gewinnanreizen weiter auf Destabilisierung mittels
ihrer Dominanz im Verteilungsbereich setzen, und zweitens müsse die Gefahr
einer weiteren Teuerung ins Auge gefasst werden.
Das seit 2003
existierende Devisen-/Importsystem hat tatsächlich ausgedient. Es ist real, wie
oben beschrieben, zu einer Grosssubventionierung des Kapitals und seiner Mafias
geworden. Ursprünglich ein Schritt in die richtige Richtung, ist dieses System
schon unter Chávez genau deswegen pervertiert worden, weil es nicht konsequent
umgesetzt und mit weiteren logischen Schritten ergänzt worden war. Wenn
Milliarden kriminell abgezweigt werden und die Täter als Bestrafung weitere
Importdollars erhalten, kann die Sache nicht funktionieren. Genau so wenig,
wenn der Aussenhandel nicht verstaatlicht oder, wohl dringender, einer gewissen
gesellschaftlichen Kontrolle unterworfen wird. Nicht vergebens haben immer
wieder Belegschaftsvertretungen ein Monitoring der Geschäftsabläufe der
wichtigen Unternehmen gefordert, vergeblich. In diese Richtung etwas real, über
vollmundige Erklärungen hinaus, aufzubauen, wäre bestimmt nicht einfach
gewesen, hätte sich aber ebenso sicher gelohnt.
Die weitgehende
Nichtbestrafung von Devisenraub reflektiert wohl ein reales gesellschaftliches
Kraftverhältnis, dem sich auch der „ewige Comandante“ nicht hatte entziehen
können. Es ist leicht, die Ölabhängigkeit zu geisseln, sehr viel schwieriger
ist und war es, daraus auszubrechen. Venezuela ist nicht Norwegen. Der
Öldollarreichtum ging zu einem guten Teil in die Unterklassen, deren Grundbedürfnisse
anders als in Skandinavien nicht gedeckt waren. Die Verbesserung des
Lebensniveaus war nicht, wie hämisch skandiert, „nicht nachhaltig“ gewesen.
Dass viele Menschen nicht gestorben sind, dass drei reichhaltige Mahlzeiten am
Tag, die medizinische Betreuung etc. zur Selbstverständlichkeit geworden sind,
ist per se nachhaltig – und zwar unendlich viel mehr als das propagierte und
jetzt drohende Gegenmodell der „Rückführung“ der Öldevisen in die globale
Börse.
Zum
gesellschaftlichen Machtverhältnis gehört aber eindeutig auch die Beteiligung
von chavistischen Sektoren zum Beispiel am Devisenraub. Milliarden verschwinden
nicht unbemerkt. Einige Beteiligte der Devisenbehörde sind mittlerweile zwar
inhaftiert worden, doch liegt nach wie vor vieles im Dunkeln. Das geht über
individuelle Korruption hinaus und hat mit internen Machtrelationen zu tun. Und
die dürften nicht losgelöst von der alten chavistischen Strategie der
Kooperation mit dem „patriotischen“ Sektor der Bourgeoisie sein – es scheint,
dass dieser Sektor nach den Multifilialen am meisten vom Grossraub profitiert
hat. Diese Strategie geht heute weiter. Wirtschaftssuperminister ist mit Pérez
Abad seit Anfang Jahr der vormalige Präsident der Industriellenvereinigung von
2001 bis zu seiner Regierungsernennung. (Abad hat vor wenigen Tagen versichert,
die famosen „Briefkastenfirmen“ im Importbereich gäbe es nicht mehr. Es wäre
schön, dazu mehr Angaben zu haben als die Aussage eines Industriellenchefs.)
Eine Sache ist, dass – anders als die Sektenmentalität stets postuliert – die
Kräfteverhältnisse nicht den „Sturm auf den Winterpalast“ jetzt sofort
ermöglichen; ein andere, dass das Kapital mit Konzessionen versöhnlich gestimmt
werden soll. Wie es darauf zu antworten pflegt, haben wir gerade in Brasilien
gesehen, wo Dilma trotz unerträglicher Zugeständnisse an die „Elite“ von dieser
abgesetzt wurde.
Das führt uns zur
Frage um die Verhältnisse „unten“, bei den unseren. Eine Frage, die wir vom
Schiff aus nicht beantworten können. Wir haben im Lauf der Jahre gelernt, dass
verlässliche Aussagen nur möglich sind, wenn man die Verhältnisse nicht einfach
nur „kennt“, sondern Teil der Kämpfe selber ist. Die alte Weisheit, dass es
nicht möglich ist, die Welt zu verstehen, ohne sie zu verändern. Weder ewig
richtige Sektenstatements, noch inhaltsleere Offizialpropaganda oder akademische Cleverness ersetzen dies.
Was wir wissen
ist, dass das Imperium einen strategischen Angriff auf die chavistische
Erfahrung führt. In Mexiko ist die Beteiligung der Armee etwa am Mord an den
Seminaristen von Ayotzinapa evident, in Kolumbien verdursten seit Jahren Kinder
der Wayúu – heute mehr als früher, da die Glencore-Grossmine El Cerrejón trotz Dürre das Wasser des Flusses Río Ranchería verbraucht; in Brasilien setzt eine üble rechtsradikale
Mafia die gewählte Regierung ab – no reason to get excited. Die humanitären
InterventionistInnen haben Venezuela im Visier.
Hast du gesehen, wie es um die Menschenrechte in Venezuela steht? - Ja, entsetzlich.Quelle: rebelion.org |
______________
Abberufungsreferendum
Kommt es erst
nächstes Jahr zum Referendum mit einem (gut möglichen) „Ja“ für den Abgang
Maduros, würde laut Verfassung der bisherige Vizepräsident nachrücken, womit
theoretisch eine chavistische Regierung bis zum ordentlichen nächsten
Wahltermin 2019 gesichert wäre. In Venezuela tobt ein juristischer Streit
darüber, ob der zuständige Nationale Wahlrat CNE, eine unabhängige Gewalt im
Staat, das Referendumsverfahren verzögere oder nicht. Anfang Mai hatte das
rechte Parteienbündnis MUD angeblich 1.8 Mio. Unterschriften, weit mehr als die
benötigten 200‘000, für die Ingangsetzung eines Abberufungsreferendums dem CNE
übergeben. Der ist nun mit der Validierung der Unterschriften beschäftigt.
Angeblich sollen dabei massive Fälschungen zu Tage getreten sein. Der CNE, in
dem auch die Rechte vertreten ist, publiziert nun seine
Tagesaktivitäten, um darzulegen, dass er keinen Verzögerungskurs fahre. Findet
das Referendum erst nächsten Januar statt, werden dabei keine gesetzlichen
Bestimmungen verletzt, wie sich aus den Rechtsgrundlagen klar ergibt.
Allerdings scheint es auch nicht zwingend, dass nicht vorher abgestimmt werden
kann. Der nächste Schritt wäre die Sammlung von Unterschriften von 20 % der
Wahlberechtigten, nach deren Validierung „binnen
drei Monate“ zur Abstimmung geschritten werden muss. Es heisst eben nicht, schliess
es aber auch nicht aus: „drei Monate danach“. Juristenfutter, geeignet für
politische Schachzüge beider Seiten. Nun hätte die Opposition dies problemlos
verhindern können, hätte sie nicht bis Ende April mit den
Abberufungsaktivitäten begonnen. Grund dafür ist sicher gewesen, dass sie sich
uneins über das Vorgehen gegen die chavistische Regierung war: Sturz über
Strassenunruhen mit Unterstützung von Paramilitärs und putschistischen
Armeeteilen oder weitere Abnutzung des Chavismus über die Wirtschaftskrise oder
Modalitäten eines jetzt durch das Oberste Gericht verhinderten
parlamentarischen Putschs wie in Brasilien?
Nachtrag Referendum: In einem Artikel vom 26. Mai klärt der Soziologe Franco Vielma einige Dinge zur
Referendumsfrage. Zusammengefasst: Das Referendum könnte theoretisch Mitte
Dezember dieses Jahr stattfinden, aber praktisch ist das ausgeschlossen. Vielma
verweist darauf, dass sich Parlamentspräsident Ramos Allup am 7. Februar für
eine Amtszeitverkürzung von Maduro per Verfassungsänderung ausgesprochen hatte,
gegen einen Zeit raubenden Referendumsprozess, für den man damals schon einen
Monat Zeit verloren habe. Ramos Allup damals: „Das Referendum ist umständlich. Es reicht, die Verfassung zu lesen“.
Weiter sei Maduro zwar erst im April 2013 gewählt worden, aber verfassungsmässig
zähle der 10. Januar, als Maduro nach dem Tod von Chávez de facto Präsident
geworden war. Auch die radikal rechte, US-finanzierte Organisation Súmate habe
dies so ausgedrückt. Das ist wichtig, weil ein Abberufungsreferendum nach dem
10. Januar 2017 keine Neuwahlen bewirken würde, sondern allenfalls ein
Nachrücken des bisherigen Vize für den Abgewählten. Vielma zitiert danach zwei
rechte Wahlexperten, die beide, in Übereinstimmung mit der chavistischen
Position, von einer Zeitdauer von acht Monaten zwischen Beginn des
Referendumsprozesses und Abstimmung ausgehen. Was der eine als „technisch machbar“ bezeichnet. Aber
nur, falls die Chavistas keine ihnen rechtlich offen stehenden Einsprachen
einlegten.
Statt Unterschriften
von 1 % der Wahlberechtigten – rund 200‘000 - für die Lancierung des
Referendums zu sammeln, dessen nächste Phase die Sammlung der Unterschriften eines
Fünftels der Wahlberechtigen für die Abhaltung des Referendums zu sammeln, habe
die Opposition eine „Show“ lanciert und fast 2 Millionen Unterschriften samt Fingerabdrücken
gesammelt. Resultat: Die Wahlbehörde – auf die Beglaubigung von 200‘000, nicht
2 Millionen Stimmen vorbereitet – müsse jetzt diese grosse Menge untersuchen,
was Zeit koste. Umso mehr, als beim Validierungsprozess schon zahlreiche
Unstimmigkeiten zu Tage getreten seien. Danach müsse die Behörde die
UnterzeichnerInnenliste öffentlich machen und den Leuten Gelegenheit geben,
allenfalls gegen ihre Nennung auf der Liste zu protestieren. Diese Regelung sei
aufgrund der Erfahrungen mit dem Abberufungsreferendum gegen Chávez eingeführt
worden, wo nach Bekanntwerden der Liste viele angegeben haben, nie ihre Unterschrift
geleistet zu haben. Solche Einsprachen müssten beantwortet werden; Zeit geht
drauf.
Nur wenn alles
wie am Schnürchen verlaufe und es keine Einsprachen gebe, sei der Termin vor
dem 10. Januar 2017 denkbar. Dies sei aber so gut wie ausgeschlossen. Für Vielma
ist klar, dass dies der Rechten bewusst sei. Seine Schlussfolgerung: Ihr geht es
nicht um das Referendum, sondern um das Anheizen einer Umsturz-fördernden
Stimmung.